Alexej Schlotfeldt studiert seit 2009 im Master of Education an der Universität
Bremen und ist seit November 2010 Mitglied des Bremer Instituts für Kanada-und Quebec-Studien.
Im folgenden Artikel schildert er seine Eindrücke und Erlebnisse, die er während
einer von der EU-Kommission geförderten Studienreise „Thinking Canada“ im Sommer
2010 gewann. Einer Einladung der kanadischen Botschaft zu Berlin folgend, wird Alexej
zusätzlich seine Impressionen auf der 32. Jahrestagung der Gesellschaft für Kanada-Studien
e.V. im Februar 2011 in Grainau vorstellen.
Auf dem Grand-Place/Grote Markt in Brüssel
Die Studienreise „Thinking Canada“ führte im vergangenen September
27 StudentInnen aus 18 Nationen Europas erst zu herrlich süßen Waffeln nach
Brüssel, dann über den Atlantik zum deftigem „Poutine“ nach Montréal/
Québec Ville und erreichte nach Aufenthalten in Ottawa
und Toronto ihren Zenit in der „weltweit besten chinesischen Küche“
in Vancouver und Victoria. Zu meinem großen Glück
war ich einer der teilnehmenden Studenten dieser Reise, auf der die kulinarischen
Köstlichkeiten formal nur eine Nebenrolle spielten.
Auf dem Weg nach Victoria
Die eigentliche Hauptrolle hatte natürlich Kanada inne sowie die Beziehungen des
Landes zur Europäischen Union. Das von der EU-Kommission großzügig geförderte Programm
gab uns die Möglichkeit, wesentliche öffentliche Institutionen, Regierungsbehörden,
Denkfabriken sowie Nichtregierungsorganisationenzu besuchen und uns mit ihren Repräsentanten
auszutauschen.
Blick auf den CN-Tower in Vancouver
Inhaltlich ging es in den über 130 Stunden Konferenzzeit um die interessanten Themenblöcke
kulturelle Diversität (Zweisprachiges Kanada, Beziehung zu den
First Nations, kanadischer Multikulturalismus), Politik (kanadischer
Förderalismus (vs.) Regionalismus), Umwelt (Arktis, nachhaltige
Entwicklung), Stadtentwicklung und Wirtschaft
(Finanz- und Handelsentwicklungen). Den besonderen Reiz machte dabei die Konzeption
der Reise aus, die es uns Studenten ermöglichte, teils konträre Positionen zu den
gleichen Themenblöcken zu hören, um dann unsere eigenen Schlüsse zu ziehen und kritische
Fragen zu stellen.
Blick auf Vancouver im Stanley Park
Begleitet wurde die Reise von einem energiegeladenen Team, bestehend aus Dr. Alexander
Berlin, Honorary Director der Europäischen Kommission, Prof.
Don Sparling von der Masaryk-Universität Brno (Tschechische Republik) und Prof.
Martin Kuester vom Marburger Zentrum für Kanada-Studien. Professor Ed Lavalle organisierte
von der Capilano Univeristät in Vancouver aus große Teile der Tour. Zusammen widerlegten
sie die These, dass man als junger Mensch belastbarer sei als im fortgeschrittenen
Alter.
Chinatown in Vancouver
Das tägliche Programm war dicht geplant und begann für mich jeden morgen gegen sechs
Uhr mit den Gesangskünsten meines französischen Zimmerkameraden, der unter der Dusche
gerne wider Protest seiner Mitbewohner deutsche Popsongs, wie mein „Mein Stern“
„sang“. Nach dem Aufstehen hieß es Hemden bügeln, da von den Organisatoren meist
die Anweisung „jacket and tie“ gegeben wurde, wenn wir beispielsweise den kanadischen
Botschafter, Minister der Provinzen oder auch den Präsident des Europäischen Parlaments
Jerzy Buzek trafen. Danach ging es mit unserem Tour-Bus zu den verschiedenen Konferenzen.
So waren wir beispielsweise in Brüssel im Consilium und trafen unweit der EU-Kommission
Abgesandte des EU-Parlaments. In Kanada besuchten wir neben dem nationalen Parlament
auch die Parlamente dreier Provinzen (Québec, Ontario, British Columbia) sowie die
für die Themenbereiche verantwortlichen Ministerien. Die einzelnen Konferenzen selbst
gliederten sich jeweils in einstündige Präsentationen gefolgt von einer anschließenden
Fragerunde, die meist den interessantesten Teil bildete. Gegen sechs Uhr endete
das Programm dann normalerweise und wir waren frei, die jeweilige Stadt zu entdecken.
Gruppenfoto TourteilnehmerInnen und Speaker of the House im kanadischen Parlament, Ottawa
Zu den interessantesten Programmpunkten zählte für mich im Verlauf der Tour zu allererst
der Einblick in die europäischen Institutionen in Brüssel. Im Rahmen meines Politikstudiums
hatte ich mich bereits ausgiebig mit dem veränderten Zusammenspiel der Institutionen
in Folge des Vertrags von Lissabon beschäftigt. Vor Ort konnte ich nun die Innen-Perspektive
von EU-Ministerrat, Parlament und Kommission selbst erleben und den Abgesandten
Fragen stellen. Interessant waren jedoch auch die Fragen, die von den anderen Studenten
gestellt wurden, in die sie häufig ihre nationalen Perspektiven einbrachten. Als
positives Zwischenfazit aus Brüssel nahm ich mit, dass, auch wenn es aus Sicht der
zwei anderen EU-Institutionen die Entscheidungsfindung nicht unbedingt vereinfacht
hat, das EU-Parlament durch Lissabon massiv an Macht gewonnen hat. Dies stellt einen
Schritt in Richtung eines bürgernahen Europas dar. Ein Beispiel für diese Entwicklung,
das auch in den Konferenzen in Kanada omnipräsent war, bestand in dem durch das
Parlament beschlossene EU-weite Verbot von Robbenprodukten, welches einen diplomatischen
Eklat auslöste.
Nächtlicher Blick auf Banque de Montreal
In Kanada hat mir der Besuch des „Museum of Civilisation“, in dem die gesamte Geschichte
Kanadas anschaulich dargestellt wird, sehr gefallen. Startpunkt sind in dem Museum
die „First Nations“, die Völker, die bereits vor der französischen beziehungsweise
englischen Eroberung im Bereich des heutigen Kanadas lebten. Beim Gang durch das
Museum erfuhr ich, wie diese autochthonen Völker durch die Siedler dominiert wurden.
Desweiteren wurden die schmerzhaften Auseinandersetzungen zwischen Briten und Franzosen
thematisiert, bevor schließlich 1867 Kanada mit dem „Pact between two founding peoples“
ohne Einbezug der „First Nations“ gegründet wurde.
Poutine
Viele dieser historischen Aspekte wie der Kampf der „First Nations“
für ihre Rechte, die Anerkennung der französischsprachigen Minderheit (in Québec)
als gleichwertig zur englischsprachigen Mehrheit, die Tatsache, dass in Kanada der
Großteil der Bevölkerung eine Migrationsgeschichte hat sowie den geschichtlich gewachsenen
Föderalismus erlebte ich auch in den Gesprächen auf den Konferenzen als Schlüsselthemen
der heutigen gesellschaftlichen Debatte.
Selbstgebauter Inukshuk, Blick auf Pazifik, Vancouver
So trafen wir in Ottawa Mitglieder des “Assembly of First Nations”
und Jugendliche des Nunavut Sivuniksavut College, einem Programm
für begabte SchülerInnen aus den arktischen First-Nations-Siedlungen. In der Versammlung
berichteten uns die Sprecher von ihrem Kampf um Unabhängigkeit, ihren Erfolgen und
den großen sozialen Problemen, die es in den weit entfernten Siedlungen im hohen
Norden gibt. Die Gespräche mit den Jugendlichen hingegen ließen die politisch und
statistisch geprägten Präsentationen zu dieser Thematik in den Hintergrund treten
und zeigten mir, wie junge Menschen sich mit ihrer traditionellen Lebensweise identifizieren
und nach ihrem Studium in ihrer Herkunftsregion etwas bewegen wollen.
Skulptur Spirit of Haida Gwaii, Bill Reid Museum of Civilisation, Ottawa
Auch die in dem Museum angesprochene besondere Stellung der Sprachpolitik Kanadas,
begegnete mir in mehrfacher Hinsicht. Zum einem hatten wir ein interessantes Treffen
mit dem Commissioner of Offical Languages Graham Fraser, der uns über die Implikationen
der Gleichstellung der französischen und englischen Sprache aufklärte. Zum anderen
wurde ich in Québec City von einem Anwohner „gestellt“, als ich nach Einbruch der
Dunkelheit seine lustige Eiscremewerbung fotografierte. Grund: er dachte, ich sei
von der „Sprachpolizei“ und wollte einen Verstoß gegen die Reglementierung englischsprachiger
Werbung dokumentieren.
TourteilnehmerInnen und Speaker of the House im kanadischen Parlament, Ottawa
Ein weiterer für mich sehr interessanter Punkt ist der Multikulturalismus
Kanadas beziehungsweise Interkulturalismus Québecs. Die Franzosen immigrierten ebenso
wie die Briten in das Land der First Nations-, weswegen nachvollziehbar
ist, dass eine „Einwanderungsland vs. Gastarbeiterland-Debatte“ wie in Deutschland
kaum vorstellbar scheint. Wie wir im kanadischen Einwanderungsministerium und später
im Ministry of Immigration and Cultural Communities (Québec hat seine eigene
Einwanderungspolitik!) erfuhren, ist Immigration ein fester Bestandteil kanadischer
Zukunftsplanung. Auf der Grundlage von Wirtschaftsprognosen wird versucht, die Einwanderung
selektiv zu steuern. Was Multikulturalismus genau bedeutet, wurde von unseren verschiedenen
Gesprächspartnern quer durch das Land sehr verschieden definiert. Während des Aufenthalts
in der Wirtschaftsmetropole Toronto, in der Menschen aus über 150 Nationen leben
und arbeiten ,konnte ich mir jedoch ein eigenes Bild machen.
Als letzten inhaltlichen Punkt möchte ich an dieser Stelle die hochinteressanten
Konferenzen im Bereich Ökonomie benennen, die mir fernab der journalistischen
Darstellung der Finanz- und Wirtschaftskrise einen fundierten Einblick in die Thematik
gebracht haben. Neben diesen Vorträgen in der kanadischen Nationalbank, hatten wir
in Toronto außerdem die Möglichkeit einen „Trade Floor“ zu besichtigen, der, so
die Sprecherin, nichts mit Subprime-Krediten zu tun hatte.
Auch wenn ich hier nur einige Schlaglichter auf meine Erfahrungen werfen konnte,
denke ich dass meine bessere Kenntnis der kanadischen Realität vor allem mehr Fragen
aufgeworfen hat. Beispielsweise wie die Zukunft der First Nations aussehen
wird, die als Bevölkerungsgruppe gefasst einerseits die höchsten Geburtenraten Kanadas
verzeichnen, aber andererseits im Schnitt über ein unterdurchschnittliches Bildungsniveau
verfügen und zwischen traditioneller und modern-westlicher Lebensweise stehen. Auch
wie das Konzept der zwei Gründernationen mit der zunehmend heterogenen Bevölkerungsstruktur
vereinbar sein wird, erscheint interessant. Mein Gesamteindruck ist, dass es in
der kanadischen Gesellschaft historisch bedingt sehr konträre Positionen gibt, die
die Kanadier jedoch nicht von einem freundlichen Miteinander von „Poutine“, chinesischer
Küche und Karibufleisch abhalten. Vielleicht haben sie sich aufgrund ihrer von Kompromissen
geprägten Geschichte zu einer im positiven Sinne heterogen-vielseitigen Nation entwickelt.
Vor diesem Hintergrund dachte ich gegen Ende der Tour darüber nach, warum nicht
ein noch engeres miteinander von Waffeln, Bier, und Baguette (usw.) in Europa möglich
sein sollte, womit ich am Schluss zu meinem wohl allerwichtigsten Punkt kommen möchte.
Die Gruppenerfahrung mit meinen europäischen Kommilitonen, machte aus meiner Reise
nach Kanada auch eine intensive Reise nach Europa. Es war sehr bereichernd mit hochmotivierten
StudentInnen aus allen Teilen Europas eine gemeinsame Erfahrung zu machen und ihre
Perspektiven auf Kanada, Europa und Deutschland zu verstehen. Am Ende der Tour stand
für mich daher ein Gefühl gemeinsamer europäischer Identität, die im Bezug auf ihre
Werte mit Kanada eng verbunden ist.
Für alle Studierenden, die jetzt Lust bekommen haben, „Kanada zu denken“, empfehle
ich die informativen Veranstaltungen des Bremer Institut für Kanada- und Québec-Studien
(BIKQS) und die Bewerbung für Thinking Canada 2011 (http://www.thinking-canada.eu).