Postkolonialismus-Kritik hat sich in den letzten Jahren zu einer wichtigen, treibenden
Kraft entwickelt, die dem Westen gezeigt hat, dass er sich lediglich als eine Region
innerhalb der Welt betrachten sollte. In der Folge wurde die Moderne ebenfalls
einer Dezentrierung unterzogen, zumal sie in den ehemaligen Kolonien sehr unterschiedlich
verlaufen ist. Sollten wir demzufolge von einer Moderne im Plural sprechen? Ist
die transkulturelle Moderne wieder lokalisiert? Wie schlagen sich transkulturelle
Erlebniswelten und Themen konkret in postkolonialer Literatur und in der Theoriebildung
nieder? Gibt es nur noch Peripherien und soll das Zentrum verschwinden? Mit diesen
aktuellen Fragen der Postkolonialismus-Debatte beschftigte sich im Rahmen einer
ffentlichen Tagung das Institut fr postkoloniale und transkulturelle Studien (INPUTS)
der Bremer Universitt. INPUTS veranstaltete diese Tagung in Kooperation mit dem
Institut Franais, den AFRIKA-FreundInnen Bremen e.V., der Deutsch-Franzsischen Gesellschaft
Bremen und der International University Bremen. Das seit dem WS 2002/03 bestehende
Institut, welches aus dem im Januar 2001 gegrndeten Institut fr kulturwissenschaftliche
Trikont-Studien hervorgegangen ist und inzwischen ber 20 Professor/innen und wissenschaftliche
Mitarbeiter/innen vereint, hat es sich zur Aufgabe gemacht so die Sprecherin des
Instituts, Gisela Febel, eine historisch-kritische Reflexion der Beziehungen zwischen
europischen und auereuropischen Kultur,- Wirtschafts- und Lebensrumen anzuregen,
hegemoniale Praktiken vermeintlicher Zentren zu hinterfragen und Wege aufzuzeigen,
die aus dem konfliktreichen Erbe der Kolonisierung hinausfhren knnen. Der viel diskutierten
Globalisierungspolitik, wie sie sich in der Ausbreitung der neuen konomien, Technologien
und westlichen Politikstrategien formuliert, sollen neue Kulturkonzepte und Identifikationsmuster
entgegengestellt werden, die innere Differenzierungen zulassen und die derzeit unter
den Stichworten Hybridisierung (mehrfache Identitten) und Kreolisierung (kreative
Vermischung) diskutiert werden. Denn selbst der Multikulturalismus, unsere gelebte
Realitt, droht unter Berufung auf festlegbare kulturelle Identitten ein Konzept
der Ghettoisierung und Kulturessentialismus zu werden.
Auf Einladung der OrganisatorInnen fanden sich acht (inter-)nationale Referenten
und Referentinnen zusammen, um mit zahlreichen ZuhrerInnen in den Rumlichkeiten
des Institut Franais de Brme zu diskutieren. Einer der zentralen Ausgangspunkte
der interdisziplinr konzipierten Tagung zielte darauf ab, postkoloniale Theorie
selbstkritisch zu hinterfragen, luft doch der Begriff des Postkolonialen zuweilen
Gefahr, der Beliebigkeit anheimzufallen oder neokoloniale Tendenzen zu verdecken.
So erluterte die Soziologin Sophie Bessis (Paris) in ihrem abendlichen Erffnungsvortrag
Entre discours universel et pratique politique, les nouvelles logiques de l hgmonie
occidentale ihr Konzept der Neuen Hegemonien (nouvelles hgmonies),
das ihrer Ansicht nach unsere sogenannte postkoloniale Welt kennzeichnet. An vielfltigen
Beispielen zeigte sie die Diskrepanz zwischen politischer Theorie (la parole)
und deren Umsetzung (la pratique) vermeintlich universell geltender Menschenrechte,
die einerseits bis heute unter weitestgehendem Ausschluss des Sdens verhandelt
werden und andererseits uerst willkrlich, zumeist nach konomischen Interessen, angewendet
werden. Dieser doppelte Standard (double standard) fhrte sie u.a. zur
Frage, welchen universellen Geltungsanspruch ein sozialpolitischer Diskurs inne
habe, der auf Exklusion und globaler Dominanz basiert.
Am darauffolgenden Tag begab sich zunchst der Anglist Frank Schulze-Engler (Frankfurt/M.)
Auf die Suche nach der verlorenen Moderne: Dekolonialisierungsmythen, Container-Kulturen
und die Krise der postkolonialen Theorie. Er sprach in Anlehnung an Anthony
Giddens von einer radikalisierten Moderne , in der sich die Peripherie neu integriert.
So sieht er in der Globalisierung durchaus die Chance fr eine vernetzte Zivilgesellschaft
, die sich durch Pluralitt und Transkulturalitt auszeichnet. Doch er przisierte
auch das der Debatte inhrente Paradoxon: Einerseits sehen sich vermeintliche Zentren
durch die (Post-) Kolonialismuskritik zur Dezentralisierung gezwungen - gibt es
doch aufgrund der Deckungsgleichheit von Westen und Moderne keine Auenseite mehr
-, andererseits luft gerade der Diskurs des Postkolonialismus Gefahr durch berproduktions-
und Strukturkrise sein kritisches Potential zu verspielen. Um nicht in einer inflationren
Rhetorik der political correctness unterzugehen, msse der Begriff des Postkolonialen
gerade den Blick auf das Andere in seiner Heterogenitt frei geben und vor allem
lokale statt globaler Zugnge ermglichen. Zur Przisierung schlug Schulze-Engler eine
Eingrenzung auf fnf Varianten der Verwendung des Begriffs des Postkolonialen vor:
Erstens kann es eine Theorierichtung benennen, zweitens bestimmte Regionen der Welt,
drittens eine politische Ideologie, viertens ein akademisches Feld in bereits bestehenden
Wissenschaftsdisziplinen und fnftens kann es einen semantischen Mix aus dem bisher
Genannten bezeichnen. Damit zeigte der Referent die Zweifel an der Paradigma-Funktion
des Postkolonialen auf, die sich in einer Verschiebung der Problemhorizonte (Kulturnationalismus,
Flucht ins "Koloniale", "Postkolonialismus" als Aktivismus,
Narzissmusproblem - Selbstfindung) niederschlagen.
Der Soziologe Srgio Costa (Berlin/Brasilien) fragte auch unter Bezugnahme auf
die Thesen von Sophie Bessis - in seinem Beitrag Menschenrechte weltweit: Der postmoderne
Blick und eine US-amerikanische-brasilianische Kontroverse, ob die humanistische
Epistemologie nicht ein Instrument der kolonialen Unterdrckung und daher durch eine
postkoloniale Epistemologie zu ersetzen sei. Er wies darauf hin, dass der Menschenrechtsdiskurs
im 19. Jahrhundert entstand und eben nicht ein Projekt der Moderne (Habermas),
sondern einen Prozess der Moderne reprsentiert. Dieser Modernittsdiskurs ist in
den Zentren bis heute geprgt von Ungleichzeitigkeiten: einerseits gekennzeichnet
durch Demokratisierungsprozesse nach innen, andererseits durch imperialistische
Herrschaftsansprche nach auen. Die Peripherie darf daher nicht an einer idealtypischen
Moderne der Zentren gemessen werden. Statt Implementierung eines vermeintlich
universalistischen Menschenrechtsdiskurses und abstrakter kosmopolitischer Rechte
schlgt Costa eine Transformation, eine Neuverhandlung eines historisch gewachsenen
Prozesses vor, unter Anerkennung von Differenzen. Statt Menschenrechte als Exportartikel
fr die vermeintliche Peripherie anzusehen, knnten sie auch in vielerlei Hinsicht
in die ehemaligen Zentren importiert werden (Bsp. Asylpolitik).
Der geplante Vortrag Widerstand und Vershnung. Von der Theorie zur Praxis
von Gerhard Stilz musste aus Krankheitsgrnden leider ausfallen, wird aber in der
Publikation erscheinen. Gleichwohl wurde der bergang von der Theorie zur Praxis
mit dem anschlieenden Beitrag Gewalt, Krieg und Genozid aus der Sicht der Schriftstellerinnen
im afrikanischen Kontext von Pierrette Herzberger-Fofana in sehr eindringlicher
Weise vollzogen. Der emphatische Beitrag zeichnete sich besonders durch das Zusammendenken
von schwarzem Feminismus und Postkolonialismus aus und zeigte Krieg und Konflikt
als Schauplatz aktueller frankophoner Literatur (Ludo Martens: Abo, une femme du
Kongo 1995, Yolande Mukagasana: La Mort ne veut pas de moi 1997 und
N aie pas peur de savoir 1999, Maie-Aimable Umurerwa: Comme la langue entre
les dents. Fratricide et pige identitaire au Rwanda 2000, Monique
Ilboudo: Murekatete 2000, Marie-Batrice Umutesi: Fuir et mourir au Zare. Le
vcu d une refugie rwandaise 2000). Die hier reprsentierten autobiographischen
Einzelschicksale wrden nicht absolut gesetzt, sondern glten als Rechenschaftsberichte
eines/r einzelnen fr viele, denn individuelle Lebensgeschichten seien immer auch
Geschichten von Kollektiven. Die Konstruktion bzw. Re-interpretation von Geschichte
in autobiographischen Texten habe auch eine Auf- und Neubewertung dieses Genres
zur Folge. Laut Referentin kme in besonderer Weise gerade die Literatur von Frauen
dieser notwendigen Erinnerungsarbeit (devoir du mmoire) nach. Als eindringliches
Beispiel von Vergangenheitsbewltigung nannte Herzberger-Fofana die Texte von Yolande
Mukagasa, die durch den ruandesischen Genozid von 1994 ihre drei Kinder, ihren Mann,
ihre Geschwister und die meisten ihrer Freunde verloren hat. Anhand dieser Texte
zeigte die Referentin, dass der Prozess des Heilens und der Vershnung nur durch
Gerechtigkeit und Vergebung eingeleitet werden knne; Gerechtigkeit durch offene
Schuldbekenntnisse der Tter und Vergebung durch Traumatabewltigung auf Seiten der
Opfer.
Ebenso wie Herzberger-Fofana beschftigte sich der Entwicklungssoziologe Elsio Macamo
(Bayreuth/Mosambik) in seinem Vortrag Die Postkolonie und die Zhmung des Schicksals
in Afrika mit der Frage nach afrikanischen Memoria-Konzeptionen und warnte
davor, Kolonialismus als einzigen allmchtigen Kreuzungspunkt (post)-kolonialer Kulturen
anzusehen ( Das Leben in der Postkolonie ist nicht nur Diskurs! ). Candides Devise
folgend Il faut cultiver notre jardin ginge es auch in Afrika darum, existenzielle
Orientierungsmuster und Bestndigkeiten aufzubauen, um so Handlungsspielrume zu gestalten.
Mit seinem Beitrag, der eine Vielzahl von Geschichten aus der afrikanischen Alltagswelt
prsentierte, verwies Macamo auf das bedeutsame Zusammenwirken von Mikroereignissen
und politischen Begebenheiten.
Claudia Gronemanns (Leipzig) Beitrag Postkoloniale Theorie und Literaturwissenschaft:
Zur Verschrnkung von Kultur- und Textbegriff war den beiden Schriftstellerinnen
Nicole Brossard (Kanada) und Sylvia Molloy (Argentinien) gewidmet und stellte einem
entgrenzten Textbegriff in Referenz auf Kristevas intertextuellem und Foucaults
diskursanalytischem Ansatz einen entgrenzten Kulturbegriff des Postkolonialen
zur Seite. Nach Gronemann lassen sich Begriff und Anwendbarkeit des Postkolonialen
nicht auf den Bereich der Dritten Welt reduzieren, sondern knnen durchaus auf
alle hybriden und vor allem minoritren Identittsformen ethnischer oder geschlechtlicher
Art bertragen werden. Am Beispiel autofiktionaler Texte von Brossard und Molloy
veranschaulichte Gronemann die Dekolonialisierung des weiblichen Krpers und homoerotisches
weibliches Begehren und setzte das textuelle Vorgehen der Autorinnen, welches sich
jenseits des autobiographischen Modus verortet, in Zusammenhang mit Homi Bhabhas
berlegungen zum Dritten Raum . Kontrovers wurde im Anschluss die Frage diskutiert,
ob bei dieser Form der Entgrenzung nicht die Gefahr bestnde, dass der Begriff des
Postkolonialen zu vage wrde, um noch tragfhig zu sein? Verlre die Stimme der Peripherie
durch eine verallgemeinerte Hybriditt nicht ihre Subversivitt? Auch birgt Homi Bhabhas
Denkmodell die Gefahr, dass dort, wo er die Machtproblematik mit dem Hybridisierungsgedanken
verbindet, der Eindruck entsteht, innerhalb des Zwischenraumes gbe es bestimmte
privilegierte Diskurse, nmlich die postkolonialen oder minoritren Diskurse. Aber
nicht alle Minoritten sind automatisch progressiv.
Abschlieend untersuchte Markus Coester (Mainz) noch eine ganz andere Konstitution
des Hybriden, nmlich die des Zusammenwirkens von karibischer Populrkultur und dominanter
britischer Kultur zur Zeit der Dekolonialisierungsphase anhand der aus Trinidad
kommenden Calypsonians Lord Kitchener und Lord Beginner. Er fhrte in die Musikgeschichte
und die damit zusammenhngende moderne Medienindustrie ein und ffnete den Blick auf
die fr den postkolonialen Diskurs wichtige Hinwendung zur Populrkultur. Sein Vortrag
I am glad to know my mother country (Lord Kitchener, 1948) Migration, Neuer
Rassismus und die subversive Antwort der Kolonialen Peripherie thematisierte
die Nachkriegszuwanderung aus den britischen Kolonien nach Grobritannien, die soziale
Ausgrenzung dunkelhutiger colonials im kolonialen Mutterland als Folge
dieser Zuwanderung und die daraus resultierenden tiefgreifenden Vernderungen der
ffentlichen Wahrnehmung dunkelhutiger Menschen. Die Calypsonians Vertreter einer
bedeutenden populren musikalisch-poetischen Tradition in Trinidad besaen laut
Referent eine wichtige Vermittlerfunktion, waren sie doch durch ihre Popularitt
wichtige Kommentatoren afrikanisch-karibischer Kultur in Grobritannien. Die auf
Schallplatte verffentlichten Calypsos bewirkten ab den 50er Jahren sogar eine weltweite
Rezeption dieser trinidadischen Musikform. Kster kam zu dem Schluss, dass die Calypsonians
in humorvoller Art Mglichkeiten neuer, post-kolonialer und hybrider Identitten
in Aussicht stellten und dabei nationale Identitt (Britishness/Englishness)
und rassistische Ideologien, die das kolonialistische Denken bestimmt hatten, unterwanderten.
Eine ffentliche Podiumsdiskussion zum Thema Clash of Civilisations oder Kreolisierung
der Welt? Zur gesellschaftlichen Relevanz der Postkolonialismusdebatte beendete
schlielich am Samstag Abend die Tagung. Im Rahmen dieses Podiumsgesprchs, welches
in der neuen Reihe DENKPLATZ BREMEN der Universitt Bremen stattfand, bestand die
Mglichkeit im Dialog mit den nationalen und internationalen Gsten zu diskutieren
sowie einen Ausblick auf weiterfhrende Fragestellungen zu geben.
Die rege Diskussionsbereitschaft und der stets sprbare Wunsch nach Dialog und Kontakt
zeigte, wie wichtig es weiterhin ist, zu diesen Fragen WissenschaftlerInnen der
verschiedenen Disziplinen miteinander ins Gesprch zu bringen. Die interdiszplinr
ausgerichtete Konferenz zeichnete sich einerseits durch eine groe Breite methodischer
und disziplinrer Zugnge aus und andererseits durch ihren Blick auf diverse Kulturrume
(Brasilien, Senegal, Ruanda, Kongo, Karibik, Grobritanien, Kanada, Argentinien),
gerade auch jenseits des anglophonen Feldes. Aufgrund der Weite des umrissenen Feldes
und der Problemkontexte blieben - wie knnte es anders sein - geographische und theoretische
Leerstellen . So ergaben sich angrenzende Themenfelder, die einer nheren Betrachtung
unterzogen werden sollten. Fr die Zukunft wird es sicherlich fruchtbar sein, neue
Identitts- und Kulturmodelle wie Hybriditt und Kreolisierung intensiver zu untersuchen,
besonders im Hinblick auf den lateinamerikanischen Raum, in dem sich kulturelle
Hybriditt seit langem entwickelt hat und eigentlich zur exklusiven Kultur (mestizaje)
avanciert ist. Aus diesem Grund wurden dort schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Verschmelzungsdiskurse oft kritisch diskutiert. An die Stelle der Beziehung von
Zentrum und Peripherie wrden dann strker Begriffe wie Transkulturation (Fernando
Ortiz), Enttotalisierung (Martn Barbero) und Hibridacon (Nstor Garca Canclini)
treten, zumal die kulturelle Realitt Lateinamerikas in besonderer Weise durch die
Gleichzeitigkeit vormoderner, moderner und postmoderner Erfahrungen geprgt ist.
Eine Fortsetzung des interdisziplinren Dialogs ber solche und weitere Perspektiven
der Postkolonialismus-Debatte in Deutschland bleibt ein Desiderat. INPUTS will daher
alle zwei Jahre jeweils im November eine Tagung zu diesen Fragen veranstalten und
so ein offenes Forum bieten. Die Beitrge dieser Veranstaltung werden 2003 als erster
Band der Schriftenreihe des Instituts ( Kritische Beitrge zum postkolonialen und
transkulturellen Diskurs in der Nachfolge der Bremer Beitrge zur Afro-Romania
) verffentlicht .
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