Repräsentation

Repräsentation (lat. repraesentare; vergegenwärtigen, wiedergeben, nachahmen). Die Vertretung oder Darstellung von etwas durch etwas, die Vergegenwärtigung von Nicht-Gegenwärtigem. Die Darstellung eines Prozesses oder eines beliebigen Objekts durch Zeichen; das zeichenhafte Vorhandensein eines Objekts für ein anderes Objekt (Peirce). Was ein Gegenstand unmittelbar ist, tritt völlig zurück gegenüber dem, was er mittelbar leistet und besagt (Cassirer).

Nach Cassirer ist die Repräsentation als Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewußtseins und eine Bedingung seiner eigenen Formeinheit. Eine neue Höhenlage des Bewußtseins wird erreicht, wo es gelingt, einen sinnlich anschaulichen Inhalt nicht nur in seiner einfachen Präsenz wahrzunehmen, sondern ihn als Repräsentation, als Darstellung oder Symbol, zu begreifen. Erst dann ist es möglich, »in dem einfachen, sozusagen punktuellen >Hier< und >Jetzt< der Erlebnisgegenwart ein anderes, ein >Nicht-Hier< und >Nicht-Jetzt< wiederzufinden« (1975, S. 133); in diesem Sinne erweist Rekognition sich an Repräsentation gebunden, und Identität und Konstanz wurzeln im Grundakt des Wiederfindens, der seine eigentliche Sicherung und seinen Halt erst in der Sprache findet.

Aber schon die Wahrnehmung ist nicht nur Erfassung des Einzelnen, Hier- und Jetzt-Gegebenen; indem sie den Charakter der Repräsentation gewinnt, »faßt sich damit erst die bunte Fülle der Phänomene zu einem >Kontext der Erfahrung< zusammen« (S. 188). Auch die Welt der Anschauung ist nicht bloß präsentativ, sondern repräsentativ, indem ihre einzelnen Elemente füreinander stehen, sich in bestimmtem Sinne vertreten und wechselseitig aufeinander hinweisen können. Schließlich führt die psychologische und erkenntniskritische Analyse des Raumbewußtseins auf die Urfunktion der Repräsentation zurück (I, S. 34): Der Ablauf von Bewegungen kann so mechanisiert bzw. automatisiert sein, daß er beliebig oft fehlerfrei wiederholbar wird; dennoch braucht der Handelnde nicht über die Möglichkeit zu verfügen, sich die einzelnen Phasen oder Stadien vergegenwärtigen zu können, d. h. er braucht kein repräsentatives Bewußtsein seiner Handlung zu haben. Der Übergang von der bloßen Handlung zur Repräsentation bzw. zum Schema der Handlung»bedeutet... eine echte >Krisis< des Raumbewußtseins ..., die mit einer eigentlichen >Revolution der Denkart< Hand in Hand geht« (III, 1 975 , S. 1 79).

Peirce kommentierte seinen ersten Schleifsteinsatz (rotary proposition) Nihil est in intellectu quod nonpriusfuerit in sensu (Locke) in dem Sinne, daß er unter intellectus die Bedeutung jeder Repräsentation in jeder Erkenntnisart, sei sie virtuell oder symbolisch, verstehe. Den Terminus in sensu betrachtete er als Wahrnehmungsurteil und Anfangspunkt alles kritischen kontrollierten Denkens (Lectures 181). Die Idee der Repräsentation ist »die Tatsache, daß das Objekt A in der Relation so repräsentiert wird, daß es die lnterpretation C determiniert«. Die dreistellige Relation der Repräsentation oder die Kategorie der Drittheit (Thirdness) ist die einzige und alleinige, gleichzeitig einfache (irreduzible) und komplexe Kategorie, d. h. es ist nicht möglich, irgendeine Zweitheit oder Erstheit in einem Phänomen zu finden, die nicht von der Drittheit begleitet wird (Lectures 89). Der Seinsmodus eines Repräsentamens bzw. eines Zeichens, das für etwas anderes steht und von jemandem verstanden oder interpretiert wird, ist von der Art, daß es der Wiederholung fähig ist; das Repräsentamen zerfällt durch die Trichotomie in das allgemeine Zeichen oder Symbol, den Index und das Ikon (Lect. 73).

Der Begriff der Repräsentation spielt in der genetischen Theorie Piagets eine zentrale Rolle. >Repräsentation< im weiteren Sinne ist identisch mit Denken, »d. h. mit allen Formen von Intelligenz, die nicht nur auf Wahrnehmungen oder Bewegungen (senso-motorische Intelligenz), sondern auf einem System von Konzepten und inneren Plänen beruhen« (1946, S. 68); >Repräsentation< im engeren Sinne bezeichnet die symbolische Evokation abwesender Realitäten. Nach Piaget vollzieht die Bildung des Denkens als konzeptueller Repräsentation sich zwar in Korrelation zum Spracherwerb des Kindes; dennoch ist die konzeptuelle Repräsentation keine einfache kausale Folge des Spracherwerbs, denn beide hängen von der Entwicklung der symbolischen oder semiotischen Funktion ab. Der Übergang des Kindes vom senso-motorischen zum symbolischen oder repräsentationalen Verhalten basiert auf Prozessen der Nachahmung und deren Internalisierung (vgl. ->Interiorisation). Die Entwicklung der Nachahmung selbst jedoch erweist sich an die Entwicklung der Intelligenz gebunden. Sprache spiele bei der Bildung des Denkens eine zentrale Rolle, »sofern Sprache eine der Manifestationen der Symbolfunktion ist, deren Entwicklung ihrerseits von der Intelligenz in ihrer Gesamtfunktion abhängt« (in: Furth, dt. 1976, S. 185).

Nach Piaget und Inhelder (L'image mental chez l'enfant 1966) setzt repräsentationale Erkenntnis die Aktivierung der semiotischen Funktion voraus, ohne die das Denken sich nicht formulieren oder in eine verständliche Form weder für andere noch für das Selbst bringen ließe. In Piagets Nachahmungstheorie des Symbol- bzw. Spracherwerbs sind die unmittelbare senso-motorische Nachahmung, die verschobene Nachahmung außerhalb der aktuellen Situation und die internalisierte bzw. verdeckte Nachahmung zu unterscheiden. In seiner Arbeit La formation du symbole chez l'enfant (1959) betrachtet Piaget die Formen des repräsentativen Denkens (Imitation, Symbolspiel, kognitive Vorstellung) als miteinander zusammenhängend; ihre Entwicklung erfolgt im fortschreitenden Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkomodation. >Repräsentation< bedeutet die Verbindung eines >Zeichens<, das eine Evokation ermöglicht, mit einem >Bezeichneten<, das durch das Denken geliefert wird; Sprache als kollektive Institution ist der Faktor der Bildung und der Sozialisierung der Repräsentation ; der Gebrauch der Wortzeichen allerdings ist für das Kind »nur in Verbindung mit den Fortschritten des Denkens selbst erreichbar« (dt. Nachahmung, Spiel und Traum, 1971, S. 342).

J. S. Bruner (dt. 1971) unterscheidet eine Repräsentation durch Handlung, durch Bild und durch Symbol. Die drei Repräsentationssysteme bestehen nebeneinander und besitzen je spezifische Eigenarten; die Möglichkeit ihrer teilweisen Übersetzbarkeit erweise sich als Triebkraft für die kognitive Entwicklung des Kindes.

Die symbolische Repräsentation oder die Repräsentation durch Sprache hat nach Bruner ihren Ursprung in einer Art primitiver und artspezifisch angeborener symbolischer Tätigkeit, die sich durch Akkulturation spezialisiert; der Erwerb von Wortbedeutungen oder Begriffen ist Aufgabe des Intellekts (Kategorialität des Wortes), d.h. daß der lautliche Rahmen den inneren Tatbestand der Sprache nicht konstituiert. Das Kind muß seine Erfahrungen unter die Kontrolle von Organisationsprinzipien bringen, die bis zu einem gewissen Grade der Struktur der Sprache entsprechen, wenn es Sprache als Instrument des Denkens im Sinne symbolischer Repräsentation verwenden lernt. Es können dann mit Hilfe der Sprache höhere Ebenen des Denkens und der Erfahrung erreicht werden. U. a. restrukturiert Sprache unsere Art, die Dinge wahrzunehmen.

Bobrow D. G. Collins A., Hrsg., Representation and understanding. 1975. Bruner J. S. u. a., dt. Studien zur kognitiven Entwicklung. 1971. Cassirer E., Philosophie der symbolischen Formen I. 5/1972 (Darmstadt). III 1975 (Darmstadt). Furth H. G., dt. Intelligenz und Erkennen. 1976. Keller H., dt. Die Geschichte meines Lebens. 1904. Lashley K. S., The problem of serial order in behavior. In: Jeffress L. A., Hrsg., Cerebral mechanisms in behavior. 1951. Peirce Ch. S., Lectures on pragmatism. Vorlesungen über Pragmatismus, hrsg. von E. Walther. 1973. Schriften I. II, hrsg. von K.-O. Apel. 1967. 1970. Piaget Traum. 1971. Rosenberg J. F., Linguistic representation. 1975. Stern Cl. u. W., Die Kindersprache. 4/l 928. 1975 (Darmstadt). Wittgenstein L., Tractatus logico-philosophicus. 8/1971 (Suhrkamp). Gombrich E. u. a.. dt. Kunst, Wahrnehmung. Wirklichkeit. 1977.