Historiographie der Linguistik

Wissenschaftsgeschichte

Die Historiographie einer Wissenschaft, das heißt die Untersuchung und kritische Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte einer wissenschaftlichen Disziplin, kann mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und also aus verschiedenen Beweggründen betrieben werden. Zu diesen gehören unter anderem

  • die Aufarbeitung individueller Texte und Materialen mit der Zielsetzung, diese der wissenschaftlichen Gemeinschaft (erneut) zur Verfügung zu stellen,
  • die Erstellung wissenschaftlicher Biographien einzelner Autoren; die Herausarbeitung der Beziehungen, die zwischen diesen Autoren bestanden und die kritische Untersuchung der Wirkung und des Einflusses, den sie auf die jeweilige Wissenschaft ausgeübt haben,
  • die Untersuchung der Entwicklung einzelner theoretischer Konstrukte sowie auch fachwissenschaftlicher Gedankengebäude, die bis zum heutigen Tag relevant sind,
  • die Analyse der in früheren Zeiten zur Hypothesenbildung eingesetzten Methodologien,
  • die Einordnung der jeweiligen Disziplin in den allgemeineren Kontext wissenschaftlichen Denkens der jeweiligen Periode.

Die Abarbeitung dererlei Aufgaben bildet zusammengenommen die Grundlage für das umfassendere Ziel, eine fundierte Wissensbasis zur Fachgeschichte der jeweiligen Disziplin zu entwickeln. Eine solche hat nicht ausschließlich die Funktion, Studierende des Fachs mit "a thorough grounding in the heritage that informs current research activity" zu versorgen (Koerner 1999:5), sondern kann auch dazu dienen, aktuelle Probleme und Fragestellungen der jeweiligen Wissenschaft zu erkennen und zu erklären – und sei es nur dahingehend, "exaggerated claims in terms of novelty, originality and revolution" als solche zu identifizieren (Koerner 1999:8).

Linguistische Historiographie

Die Beschäftigung mit linguistischen Werken aus vergangenen Zeiten hat in der Sprachwissenschaft seit der Antike Tradition und erlebte im 19. Jahrhundert in der neu aufkommenenden Historisch-Vergleichenden Sprachwissenschaft eine erste Blütezeit. Die Gründe für diese Beschäftigung waren vielfältig und reichten von dem Bestreben, linguistisch als wertvoll angesehenes Gedankengut zu bewahren (durchaus auch, um die eigene Arbeit durch Berufung auf frühere Autoritäten zu legitimieren) bis zu dem Versuch, den Fortschritt des Faches über die Zeit nachzuzeichnen.

Als eigenständige Disziplin und ein den wissenschaftlichen Standards der Methodologie und Theoriebildung verpflichtetes Forschungsprogramm entfaltete sich die linguistische Historiographie in den 60er – 70er Jahren des 20. Jahrhunderts und entwickelte sich seither zu einem vollausgebildeten Teilgebiet der Linguistik mit einem fundiertem Fachwissen, das die schlichte Aneinanderreihung historischer Fakten weit übersteigt. (siehe hierzu z.B. Schmitters 2003)

Linguistische Historiographie und Koloniallinguistik

Im Rahmen der deutschen Kolonialisierung von Gebieten in Afrika, China, Papua-Neuguinea und Mikronesien (ca. 1884 - 1919) entstanden zahlreiche Publikationen zu einer Teilmenge der ebenso zahlreichen Sprachen, die in den Kolonien gesprochen wurden. Erstellt sowohl von ausgebildeten Linguisten als auch von linguistischen Laien umfassen diese Werke Grammatiken und Lehrbücher, Aufsätze über als 'exotisch' wahrgenommene spezifische Eigenschaften der Sprachen, kleinere vergleichende Studien und erste Versuche einer umfassenden Typologie beispielsweise der Sprachen Afrikas. Dieses Material führt bis dato eine Art Schattendasein im Rahmen der linguistischen Historiographie, d.h. dass eine umfassende, kritische Aufarbeitung noch nicht erfolgt ist. Dies ist aus verschiedenen Gründen bedauerlich:

  • Ein Teil des Materials ist bis zum heutigen Tag in Gebrauch, so z.B. bestimmte Referenzgrammatiken afrikanischer Sprachen. Welchen Wert haben diese Grammatiken und sind sie mit heutigen Arbeiten vergleichbar? Sind die doch sehr vertraut erscheinenden Beschreibungstermini, sprich Begriffe wie Nomen und Verb oder Subjekt und Objekt abbildbar auf die Verwendung in modernen Ansätzen (in denen sie allerdings nicht einheitlich definiert sind)? Wie behandelten die Autoren linguistische Phänomene, die ihnen fremd waren? Und kann die Annahme erhärtet werden, dass viele Autoren den Sprachen der Kolonien die Beschreibungsmodalitäten der traditionellen, auf dem Griechischen bzw. Lateinischen basierenden Grammatik mehr oder weniger unbeholfen überstülpten? (siehe hierzu z.B. Hennig 2009)
  • Fragen danach, zu welchem Grad die linguistischen Beschreibungen durch Konzepte wie 'Primitivität' und 'Überlegenheit' (von Sprachen und deren Sprechern) beeinträchtigt waren und inwieweit bestimmte strukturelle Eigenschaften von Sprachen instrumentalisiert wurden, um den Nimbus einer kulturellen Höherwertigkeit zu untermauern, sind klärungsbedürftig. Antworten auf diese Fragen mögen dann auch dazu dienen, das Verhältnis zwischen Ideologie und linguistischer Theorie in der Kolonialzeit stärker zu erleuchten, ein nicht zu vernachlässigendes Desideratum angesichts der Tatsache, dass mit Werken aus dieser Zeit u.a. der Grundstein für die sich in Deutschland im 20. Jahrhundert entwickelnde Afrikanistik gelegt wurde. (siehe hierzu z.B. Cyffer 2011)
  • Das Material ist auch deshalb von Interesse, da es unmittelbar vor einer größeren wissenschaftlichen Wende in der Sprachwissenschaft, sprich dem Anbruch des Strukturalismus produziert wurde. Hier gilt es zu untersuchen, inwieweit die Arbeiten Einfluß hatten auf Werke von Autoren wie z.B. Steinthal, Delbrück, Brugmann, Müller oder Wundt, sprich von Autoren, die gemeinhin mit bestimmten Ausrichtungen der allgemeinen Sprachwissenschaft assoziiert werden. Andersherum ist die Frage interessant, ob die zur damaligen Zeit in der allgemeinen Sprachwissenschaft formulierten Annahmen bezüglich Theoriebildung und Methodologie ihrerseits einen Reflex finden in den Arbeiten zu Sprachen der Kolonien.
  • In diesem Zusammenhang wäre letztlich auch die Frage danach zu klären, welchen Anteil die zur Kolonialzeit produzierten Werke an dem Umstand hatten, dass die Sprachwissenschaft in Deutschland die im vorigen Punkt erwähnte Wende zum Strukturalismus mehr oder weniger verschlafen hat und sich stattdessen in die rassistische Pseudo-Wissenschaft entwickelte, die sie dann im 3. Reich darstellte. (siehe hierzu z.B. Roemer 1985)

Diese Fragen bilden einen Schwerpunkt des historiographischen Wirkens unserer Forschungsgruppe.

S. Hackmack | 20. 02. 2012

Literatur

Koerner, Konrad: 1999 Linguistic historiography: projects & prospects. Amsterdam: J. Benjamins.

Hennig, Mathilde: 2009 Zum deutschen Blick auf grammatische Eigenschaften von Kolonialsprachen. In: Ingo H. Warnke (Hg): Deutsche Sprache und Kolonialismus. Aspekte der nationalen Kommunikation 1884 – 1919. Berlin: Walter de Gruyter, 2009. 119 – 144.

Römer, Ruth: 1985 Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland. München: Fink.

Schmitters, Peter: 2003 Historiographie und Narration. Metahistoriographische Aspekte der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Linguistik. Tübingen: Gunter Narr.

Cyffer, Norbert: 2011 Gibt es primitive Sprachen – oder ist Deutsch auch primitiv? In: Stolz, Thomas, Barbara Dewein & Christina Vossmann (Hg.): Kolonialzeitliche Sprachforschung. Die Beschreibung afrikanischer und ozeanischer Sprachen zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft. Berlin: Akademie Verlag. 55–74.