Beschreibung

Im Juni 2005 fand in Münster eine Tagung zu Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik statt (s. den Tagungsbericht im Tagungskalender von http://www.mediaevum.de), bei der einerseits Fallstudien zu einzelnen Texten vorgelegt und andererseits unterschiedliche theoretische Modelle zur Analyse mittelalterlicher fiktionaler Dia­loge diskutiert wurden (unter Einbezug sprachwissenschaftlicher Methoden wie der Dia­log­grammatik und der Konversationsanalyse).

Im Bereich der Formen mittelhochdeutscher Dialoge wurde unter anderem die Gestal­tung von Inquitformeln besprochen und die Frage gestellt, inwiefern sich in direkter Rede All­tags­sprache abgebildet findet; die Verwendung besonderer rhetorischer Formen wie der Sti­cho­mythie erwies sich nicht nur als formale Spielerei sondern, auf einer höheren Ebene, als struk­turbildendes bzw. strukturmarkierendes Stilmittel. Sprachwissenschaftliche Detailanaly­sen zeigten, dass die meisten Autoren mittelalterlicher Texte ein hohes Bewusstsein von den Mög­lichkeiten sprachlicher Verständigung und kommunikativer Missverständnisse besitzen. Da­bei ist je nach den Teilgattungen und Perioden der mittelalterlichen Literatur zu differen­zie­ren: Das sprachliche Verhalten der einzelnen Figuren und der Grad der Reflexion über die­ses Sprechhandeln in der Heldenepik ist verschieden von demjenigen in der Artusepik oder et­wa in der (höfischen) Legende.

Für die Funktionen der Redeszenen erwies sich, dass Dialoge und Monologe der Fi­gu­rencharakterisierung dienen können, ebenso der Erzähler­charakteri­sierung (insbesondere in Re­deszenen, die sich an extradiegetische Figuren richten). Des Weiteren zeigte sich, dass nicht nur in Erzählerrede, sondern gerade auch in Dialogen entscheidende Informationen ver­mit­telt werden können: Nicht nur der Erzähler erzählt, sondern auch die handelnden Figuren. Die Redeszenen sind Bestandteil der Handlung, indem sie Konflikte thematisieren oder lösen, Missverständnisse beseitigen oder aufwerfen; zusätzlich können sie handlungsauslösend sein.

Die geplante Tagung in Bremen versteht sich als eine Fortsetzung dieser ersten Überlegungen. Deut­lich wurde, dass die zukünftige Analyse von Redeszenen in den mittelhochdeutschen Epen einerseits die Verbindung sprach- und literaturwissenschaftlicher Methoden optimieren, an­dererseits stärker komparatistisch ausgerichtet sein sollte, als dies bisher der Fall war: Ohne den Einbezug insbesondere der lateinischen und französischen, vielleicht aber auch niederlän­di­scher, englischer und nordischer Texte lassen sich die Eigenheiten der jeweiligen volksspra­chi­gen Traditionen kaum umfassend beschreiben. Dabei ist nicht nur an literarische Vorbilder zu denken, sondern auch an theoretische Schriften zu Rhetorik und Poetik.

Ausgehend von diesen Vorüberlegungen seien im Folgenden einige Anregungen für mögliche The­menbereiche skizziert:

  • Für viele mittelalterliche Epen und ihre Vorlagen fehlen komparatistische Analysen der jeweiligen Verwendung direkter und indirekter Rede. Dabei könnte etwa auf die Ver­teilung der Redeanteile, auf Inhalt, Aufbau und Form des Ausgesagten, auf Asym­me­trien in den Sprecherkonstellationen, auf ständische oder geschlechtsspezifische Unterschiede im Redeverhalten einzelner handelnder Figuren eingegangen werden.
  • Die Untersuchungen sollten nach Möglichkeit erneut sprach­wissen­schaftliche Analy­se­methoden einbeziehen: Welcher Dialoggrammatik unterliegen die mittelalterlichen Re­deszenen? Wie lässt sich die Gesprächstechnik einzelner sprechender Figuren be­schrei­ben? Zu reflektieren ist dabei das methodische Problem der Übertragung von für das primäre System mündlicher Kommunikation entworfenen Ansätzen auf das sekun­däre System literarischen Sprachhandelns.
  • Ausgehend von solchen Fallstudien wäre zu fragen, ob grundsätzliche Unterschiede zwi­schen der Gestaltung von Redeszenen (etwa) in französischen und deutschen Tex­ten des Mittelalters festzustellen sind; es zeichnet sich ab, dass die deutschen Autoren viele Stilmittel und Strukturvorgaben aus ihren Vorlagen übernehmen, diese jedoch ge­zielt verändern.
  • Nicht selten wird in den Texten selbst das Sprechen thematisiert; erlaubt dieses „Spre­chen über das Sprechen“ Rückschlüsse auf eine (implizite) Poetik des mittelalterlichen Epos, auf eine mögliche Theorie der Verwendung von Redeszenen? Inwiefern stim­men solche indirekten Hinweise auf die mittelalterliche Poetik mit den Vorgaben der er­haltenen (lateinischen) Poetiken bzw. Rhetoriken überein? Verselbstständigen sich die volkssprachigen Texte möglicherweise zunehmend von diesen?
  • Da es sich bei den Redeszenen um fingierte Mündlichkeit in schriftliterarischen Tex­ten handelt, wäre auch zu fragen, inwieweit diese Dialoggestaltung eine für die Zeit mo­derne Gesprächskultur abbildet und Redekonventionen spiegelt.
Prof. Dr. Franz Hundsnurscher
HDoz. Dr. Nine Miedema
PD Dr. Monika Unzeitig