Abstracts

Sind wir im Spiel? Über die irritierende Unentscheidbarkeit von Virtualität und Realität innerhalb der Fiktion am Beispiel von David Cronenbergs ExISTENz (1999).

Heinz-Peter Preußer (Bielefeld)

Verstören kann ein (filmischer) Text auf mannigfache Weise. Das unzuverlässige Erzählen ist nur eine Subkategorie der heftigen Irritationen, die Narrationen zuweilen bewirken. Mein Punkt ist, dass die Verstörungen dann ästhetisch reizvoll erscheinen, wenn sie einerseits ambivalent werden bis zur Unentscheidbarkeit, andererseits aber hinlänglich Material geboten wird durch das Artefakt, Kohärenzen dennoch zu konstruieren: Der Rezipient ist also permanent bemüht, die Unentscheidbarkeit aufzulösen in Entscheidungsprozesse. Er begnügt sich nicht dabei, die Ambivalenz zu konstatieren, wie Dominik Orth das Problem im Rahmen seiner Typologie über den Realitätsanspruch fiktionaler Narrationen hat lösen wollen. Er bleibt aber auch nicht völlig orientierungslos. Der Genuss, der nur ungenügend mit dem Terminus mindfuck bezeichnet wird, tendiert deutlich zur Artefakt-Emotion als metaleptischer Kategorie.

Beabsichtigt ist bei Cronenberg durchweg die Täuschung: durch die Unzuverlässigkeit der narrativen Instanz (in der Fokalisierung, Okularisierung, Aurikularisierung), durch die dramaturgische Konstruktion auf den finalen twist hin, der sich dann selbst als red herring entpuppt. Die Täuschung ist also bereits als narrative Paradoxie angelegt, wie die zahlreichen Metalepsen, Möbiusschleifen, und die Mise en abyme der Spiegelung fiktionaler Ebenen belegen. Verrätselungen kommen hinzu durch die vielfach abstrus-fantastischen und emotional verwirrenden Geschehnisse, die im Plotverlauf geboten werden, darunter zählen Verschachtelungen von (inhaltlich monströs ausgestalteten) Träumen, welche die grundsätzliche narrative Ambiguität von Realität und Spielebene unterstreichen.

Wir sehen also nicht nur die transzendentale Frage nach der Überprüfbarkeit der Sinneseindrücke aufgeworfen, sondern befinden uns zugleich in einem Strudel teils ekelhafter, teils faszinierend drastischer Bilder mit erotischen und/oder gewalttätigen Konnotationen, in denen es auf doppelte Weise kein Entrinnen zu geben scheint. Der Rezipient glaubt sich gefangen im Spiel eXistenZ des Softwareunternehmens Antenna Research und seiner Entwicklerin, der Protagonistin Allegra Geller; aber er ist auch, wie der Antagonist Ted Pikul, Opfer seiner eigenen Sehnsüchte und Projektionen, die der Film als einen Metadiskurs der Psychoanalyse inszeniert. Beides zugleich macht die meisterhaft ausgestellte, irritierende Unentscheidbarkeit von Virtualität und Realität innerhalb der Fiktion bei David Cronenberg aus.

Bezogen auf das Konzeptpapier wird der Vortrag demnach Elemente aus allen drei Säulen aufgreifen und erörtern – auf der Ebene der discours wie derjenigen der histoire. Ziel ist aber nicht allein, deren Wechselverhältnis zu beschreiben, sondern die Kohärenzannahmen zum Ausgangspunkt in diesen drei Grundstrukturen des verstörenden Erzählens zu wählen – und anschließend das daraus resultierende unendliche Kontinuum des (konstruktiven) Scheiterns aufzuzeigen.


Komplexes Erzählen im Film: Überlegungen zum Zusammenspiel von Verwirrung, Ambiguität und Täuschung am Beispiel von IDENTITY (2003, James Mangold), ABRE LOS OJOS (1997, Alejandro Amenábar) und PUPPETBOY (2008, Johannes Nyholm).

Matthias Brütsch (Zürich)

Komplexe narrative Strukturen sind filmhistorisch betrachtet zwar nichts Neues, erleben seit knapp drei Dekaden in Independent- wie Mainstream-Produktionen jedoch eine viel beachtete Blütezeit. Die Tatsache, dass für den Trend weg von linearen, eindeutigen, vorhersehbaren und zuverlässig erzählten Geschichten verschiedene Sammelbegriffe eingeführt wurden („offbeat storytelling“, Bordwell 2006; „the new disorder“, Denby 2007; „mind game movies“, Elsaesser 2009; „puzzle films“, Buckland 2009; „disorienting media“, Eckel et al. 2013), sollte allerdings nicht über die Heterogenität der in diesem Kontext besprochenen Filme hinwegtäuschen.

In meinem Vortrag möchte ich versuchen, etwas Ordnung in dieses „neue Durcheinander“ zu bringen. Dabei gehe ich davon aus, dass komplexe Erzählungen oft eine oder mehrere der folgenden drei Strategien wählen, die den Rezeptionsprozess maßgeblich bestimmen:

  • Verwirrung (durch Paradoxien und Inkohärenzen)
  • Verunsicherung (durch das Etablieren von Ambiguität)
  • Täuschung (durch das Auslegen falscher Fährten)

Allerdings gilt es zu beachten, dass sich die genannten Strategien aufgrund gegenseitiger Beeinflussung nicht wahllos kombinieren lassen. Die Analysen von Identity(USA 2003), Abre los ojos (Sp/F/I 1997), Puppetboy(Schweden 2008) und weiteren Beispielen sollen zeigen, welche Kombinationen häufig anzutreffen sind und welche Effekte sie zeitigen. Ein besonderes Augenmerk wird zudem auf die Frage gerichtet, welcher Dramaturgie das Zusammenspiel verwirrender, verunsichernder und täuschender Erzählverfahren folgt.

Erwähnte Literatur:

Bordwell, David. The Way Hollywood Tells It. Berkeley 2006.

Buckland, Warren (Hg.). Puzzle Films: Complex Storytelling in Contemporary Cinema. Malden 2009.

Denby, David. „The New Disorder.“ In: The New Yorker, 5.3.2007.

Eckel, Julia et al. (Hg.). (Dis)orienting Media and Narrative Mazes. Bielefeld 2013.

Elsaesser, Thomas. „The Mind-Game Film“. In: Buckland 2009. S. 13–41.


Im Störfeld des Entzugs: Die Filme von Lisandro Alonso, Bruno Dumont u.a.

Jörg Türschmann (Wien)

In seinem Buch Pour un cinéma contemporain soustractif (2014) schreibt Antony Fiant, dass sich die „films soustractifs“ dem aristotelischen Modell aus Exposition, Steigerung und Auflösung verweigerten (S. 11). An seine Stelle träten Langsamkeit und Kontemplation. Was sich wie eine Fürsprache gutbürgerlichen Kunstgenusses liest, verstört das Publikum nachhaltig und ist in Wahrheit eine Herausforderung seiner Geduld und Kooperationsbereitschaft. In extrem langen Einstellungen, ohne sichtbares Fortschreiten einer Handlung und unter Verzicht auf weiterführende Informationsvergabe werfen die Filme, die Fiant zu den substraktiven rechnet, das Publikum auf sich selbst zurück. Sie entziehen sich einer Begründung und stellen die Frage nach ihrem Sinn bis hin zum Verdacht, dass sie bedeutungslos, Zierrat, Design oder bloß stehende Bilder eines kinematografischen Leporellos sein könnten.

Sehr wohl handelt es sich um fiktionale Filme, die Geschichten erzählen. Doch statt sein Publikum mit überbordenden Verschachtelungen zu attackieren, erzeugt das substraktive Kino die verstörende Komplexität im Kopf des Zuschauers selbst. Dabei handelt es sich nicht um eine Desorientierung, die letztlich immer noch auf bekannten Informationsmustern aufbaut. Vielmehr verurteilt die vermeintliche Ziellosigkeit der Bilderfolge den Zuschauer zum lähmenden Kreisen um Hypothesen, was ihn plötzlichen Veränderungen schutzlos ausliefert. – Im Vortrag sollen an verschiedenen Beispielen einige Facetten dieses Phänomens vorgestellt werden.


Verrätselung und Täuschung in Bezug auf die achronologische Struktur von Nicholas Roegs BAD TIMING (1980).

Jeff Thoss (Berlin)

Mein Vortrag möchte Nicolas Roegs Bad Timing (1980) als Beispiel für verstörendes Erzählen behandeln und aufzeigen, dass es in diesem Film nicht einfach die prononcierte Achronie, sondern die Kombination aus nichtlinearer Chronologie und Linearität versprechendem continuity style sind, die zu Verrätselung und Täuschung führen. Wie bereits der Titel andeutet, geht es in Bad Timing ganz wesentlich um Zeit. Auf der Ebene der histoire besitzt der Film jene für Detektivgeschichten charakteristische Verdoppelung der Zeitstruktur: Erzählt wird die Geschichte eines Verbrechens sowie die Geschichte der daran anschließende Ermittlung, die die Chronologie der vorhergehenden Ereignisse zu rekonstruieren versucht. Alex Linden liefert seine Freundin Milena Flaherty nach einem angeblichen Selbstmordversuch ins Krankenhaus ein und wird von Inspektor Netusil verdächtigt, den wahren Verlauf des vorangegangenen Abends zu verschleiern. Netusil macht sich daran, diesen aufzuklären. Derweil stehen die Zuschauer auf der Ebene des discours vor einer ähnlichen Aufgabe wie der Inspektor: Bad Timing präsentiert die Vorgeschichte von Alex und Milena in einer Vielzahl von zumeist kurzen Flashbacks, deren Zusammenhang es nachzuvollziehen bzw. herzustellen gilt. Zur Verrätselung der histoire gesellt sich also eine Verrätselung des discours. Dabei wird schnell klar, dass sich die analeptischen Szenen nicht in eine richtige Reihenfolge bringen lassen. Zudem ist der ontologische Status einiger Sequenzen nicht eindeutig, da es sich dabei ebenso gut um „echte“ Flashbacks wie um Fantasievorstellungen der Figuren handeln könnte. Selbst die Existenz des zentralen Verbrechens (die Vergewaltigung Milenas durch Alex am Abend des Selbstmordversuchs) gerät so in Zweifel.

In der Forschung ist mit Blick auf Bad Timing meist von Fragmentierung, Dekonstruktion oder Zusammenbruch von Zeitlichkeit gesprochen worden, die sich filmhistorisch auch als Absage an das Zeit- und Montagekonzept des klassischen Hollywoodkinos begreifen lassen (so etwa prominent bei Keyvan Sarkhosh, Kino der Unordnung. Filmische Narration und Weltkonstitution bei Nicolas Roeg, Bielefeld 2014). Dabei wird gerne übersehen, dass sich Bad Timing vielfach gerade der Mittel dieses Kinos, insbesondere des continuity editing, bedient, um seine Zeitsprünge zu realisieren. Wohl verzichtet Nicolas Roeg auf die gängigen Methoden, Flashbacks anzuzeigen; stattdessen werden Vergangenheit und Gegenwart mithilfe von Techniken wie eyeline match, match on action, shot/reverse shot oder sound bridge scheinbar nahtlos miteinander verbunden. Dies führt wiederholt zur (kurzzeitigen) Täuschung der Zuschauer, da die so hergestellte räumliche Kontinuität die zeitliche Diskontinuität kaschiert. Bad Timing nutzt also durchaus den continuity style, er wendet ihn bloß bewusst „falsch“ bzw. „schlecht“ an. Der Film stellt klassische Montagetechniken gleichsam aus, führt immer wieder auf virtuose Weise vor, wie sich auf discours-Ebene – auf der Oberfläche des Bildes ebenso wie auf der Tonspur – einzelne Einstellungen reibungslos zusammenfügen lassen, deren zeitliche Verknüpfung auf histoire-Ebene nicht gegeben ist. Umso brüchiger und fragwürdiger die Chronologie der Geschichte erscheint, umso mehr betont Bad Timing die mediale Eigenlogik filmischer Zeitstrukturen. Statt eine mimetische Lösung der verstörenden Zeitstruktur in Aussicht zu stellen, wird so letztlich die Montage selbst zum Faszinosum des Films.


Narrative ‚Verrätselung‘ in Lepages Possible Worlds (2000)

Stephan Brössel (Münster)

Robert Lepages Film Possible Worlds erzählt die verwobene Geschichte aus Kriminalfall und Liebesbeziehung. Einerseits versucht ein Ermittlerteam den rätselhaften Mord an einem Mann aufzuklären, dessen Gehirn entfernt und entwendet wurde; andererseits werden verschiedene und unterschiedlich intensive Zusammentreffen zwischen ebendiesem Mann und einer Frau präsentiert.

Eine narrative Verrätselung – im Sinne ‚verstörenden Erzählens‘ − liegt nicht allein deshalb vor, da wir es hier augenscheinlich mit zwei disparaten (jedoch in dieser Hinsicht nicht gekennzeichneten) diegetischen Ebenen zu haben, sondern weil der Film keine klare Trennung zwischen ihnen vornimmt. Mehr noch: Er verschleiert die ontologische Differenz zwischen Diegese und mentaler Metadiegese u.a. durch verzahnende Überblendungen. Derartigen Präsentationsstrategien entsprechen indes Inkohärenzen der dargestellten Welt, mit der letztlich offengelassen wird, ob es sich um eine intersubjektiv geltende Realität oder um die Menge ‚(imaginiert-)möglicher Realitäten‘ eines Subjekts handelt.

Der Vortrag verfolgt zwei Ziele: zum einen die analytische Bedeutungsrekonstruktion des vorliegenden Untersuchungsgegenstands angesichts seiner spezifischen Realisierung ‚verstörenden Erzählens‘, zum anderen ggf. die Präzisierung des theoretischen Begriffsarsenals rund um die filmisch-narrative Verrätselung.


Verstörender Sound, verstörende Montage in Shane Carruths UPSTREAM COLOR (2013).

Erwin Feyersinger (Tübingen)

Upstream Color (USA, 2013) ist der zweite Film von Shane Carruth, der schon 2004 mit Primer einen verstörenden Kultfilm vorgelegt hat. Das Thema von Upstream Color ist verstörend – er handelt vom Lebenszyklus eines seltsamen Organismus zwischen Menschen, Schweinen und Orchideen –, aber für meinen Beitrag ist die filmische Umsetzung entscheidend. Der Film setzt Ton und Schnitt ein, um eine atmosphärische, verrätselnde Wirkung zu erzielen. Die Geräusche und die Montage verbinden unterschiedliche Handlungsfetzen zu einer eng verzahnten raumzeitlichen Konfiguration. Assoziativ werden so etwa die Handlungen der beiden Hauptpersonen, die versuchen, ihr Schicksal zu entschlüsseln, mit den Handlungen des Schweinefarmers, der durch die Natur streift und field recordings aufnimmt, durch diese Geräuschaufnahmen und durch match und jump cuts verwoben. In meinem Beitrag werde ich analysieren, wie Upstream Color diese spezifisch filmischen Mittel einsetzt, um verstörend zu erzählen.


(Ver)Störendes Erzählen in THE TRACEY FRAGMENTS (2007, Bruce McDonald).

Julia Eckel (Bochum)

„Verstörend authentisch“ – dieses Qualitätsurteil bzw. Kauf-Argument findet sich auf der DVD-Hülle des Films The Tracey Fragments und bezieht sich dabei vorrangig auf das beeindruckende Schauspiel von Darstellerin Ellen Page in der Hauptrolle der Tracey Berkowitz. Die kanadische Independent-Produktion von 2007 empfiehlt sich hier demnach selbst als prädestiniertes Material, um der Frage nachzugehen, was innerhalb filmischen Erzählens möglicherweise als „Verstörung“ bezeichnet werden kann. Interessanterweise ist es im Falle von The Tracey Fragments aber nicht (nur) die Präsentation und Präsenz der Hauptfigur Tracey, sondern vor allem die Beschaffenheit der Filmbilder selbst, die die Frage aufwirft, inwieweit das verstörende Erzählen ins Verhältnis zu setzen wäre zu einem bildästhetisch störenden Erzählen.

Der Film handelt von der fünfzehnjährigen Tracey Berkowitz, die auf der Suche nach ihrem verschwundenen Bruder Sonny ist. Vielfache (Ver)Störungen sind es dabei, die den Film auf narrativer wie bildästhetischer Ebene gleichermaßen durchziehen: Zum einen ist es die genannte ‚verstörte‘ (wenn es nach ihren Eltern geht sogar ‚gestörte‘) Hauptfigur Tracey, die uns in einer Art audiovisuellem Stream of Consciousness an ihrem Leben zwischen Schul-Mobbing, schwierigen Familienverhältnissen und Psychotherapie teilhaben lässt, und zum anderen die ausgestellte Störung der Filmbilder selbst: Über 50 parallele ‚Split Screens‘ sind streckenweise im Bild zu sehen, die teils Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, teils Phantasie und Wirklichkeit, teils unterschiedliche Bildmaterialitäten (Video, Foto, Comic etc.) miteinander in Dialog und variable Verhältnisse setzen.

Ausgehend von diesem Material möchte der Vortrag der Frage nachgehen, wie sich die gestörten bzw. den linearen Verlauf der Handlung störenden Bilder in The Tracey Fragments Zusammendenken lassen mit dem Konzept des Verstörenden Erzählens: Inwieweit und auf welche Arten und Weisen manifestieren sich in diesem Film Formen des täuschenden, paradoxen und verrätselten Erzählens? Welche Besonderheiten seiner Machart lassen möglicherweise eine Verfeinerung des Konzepts des verstörenden Erzählens im Hinblick auf Bildästhetik und -stilistik zu? Und mit welchen anderen gängigen Kategorien ließe sich der Film ggf. noch erfassen? Diese und ähnliche Fragen sollen im Fokus stehen.


Verstörende Sterbephantasien in Herk Harveys CARNIVALS OF SOULS (1962) und Christian Petzolds YELLA (2007).

Matías Martínez (Wuppertal)

Am Beispiel von Herk Harveys „Carnival of Souls“ (1962) und Christian Petzolds „Yella“ (2007) werden Verfahren und Funktionen der erzählerisch unzuverlässigen Darstellung von Sterbephantasien untersucht. In diesen Filmen (ebenso wie in ähnlichen Erzähltexten) führt die Täuschung des Zuschauers zu einer verrätselten Diegese, die am Ende durch einen twist aufgelöst wird. Die finale Auflösung erhält eine selbstreflexive Wendung, indem das Ende der Täuschung mit dem Tod der Protagonisten und dem Ende der Handlung zusammenfällt.


Die intrafiktionale Macht von Fiktion: BETIBÚ (2014) von Miguel Cohán.

Inke Gunia (Hamburg)

Der Film Betibú (2014) des argentinischen Regisseurs Miguel Cohan basiert auf dem gleichnamigen Roman (2011) der erfolgreichen argentinischen Krimiautorin Claudia Piñeiro (*1960). Der Mord an einem einflussreichen und sehr reichen Geschäftsmann, der in Verbindung mit anderen Morden steht, soll durch ein Team von zwei Journalisten einer auflagenstarken Tageszeitung und durch ihre Kriminalromane bekannten Autorin untersucht werden. Die Krimiautorin beschreibt und kommentiert jeden Schritt der Investigation durch eine Kolumne in dieser Zeitung. Mit jedem Puzzleteil, das zur Aufklärung des Falles beiträgt, wirft dieser jedoch neue Fragen auf. Das Team kommt schließlich an einen Punkt, an dem es sich entschließt, seine Version der Lösung in der letzten Kolumne als fiktionale Erzählung zu präsentieren. Als sie den mutmaßlichen Mörder mit dieser Geschichte konfrontieren, scheint dieser zu gestehen und den drei Ermittlern mit dem Tod zu drohen, sollten sie ihre Geschichte zur Veröffentlichung bringen. Am Ende stirbt auch der mutmaßliche Mörder in einem Umstand, der auf einen Raubüberfall hindeutet, und dem Zuschauer werden Hinweise darauf gegeben, dass auch das Ermittlerteam nicht mehr lange zu leben hat. Eine obskure Institution, die von der Krimiautorin nur als „la Organización“ bezeichnet wird, scheint die Fäden zu ziehen. Endgültige Gewissheit über die Entwicklung und die Richtigkeit der als Fiktion präsentierten Spur gibt es nicht. Die extradiegetische Erzählinstanz zitiert im Verlauf der Recherchen des Teams die Stimme der Krimiautorin aus den entstehenden Kolumnentexten (intradiegetische Ebene). Es deutet darauf hin, dass auch die parallel zum gesprochenen Erzähltext gelieferten Bildsequenzen der Mordhandlung der Vorstellung der Schriftstellerin entspringen und keine Analepsen der extradiegetischen Instanz sind. In dem Film wird die Erzählung „Continuidad de los parques“ (1964) des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar zitiert, die als klassisches Beispiel für eine Metalepse in der Forschung vielfach zitiert worden ist: extradiegetischer Erzähler präsentiert die Geschichte eines Mannes, der einen Roman liest, deren Protagonist den lesenden Mann zu ermorden beabsichtigt.


Zwischen verstörendem Erzählen und verstörender Welterfahrung. David Lynchs INLAND EMPIRE (2006) als Herausforderung für die Erzählforschung.

Oliver Schmidt (Hamburg)

Inland Empire, David Lynchs bisher letzter Spielfilm aus dem Jahr 2006, bewegt sich in seiner ästhetischen wie strukturellen Gestaltung an der Grenze zwischen fiktionalem Erzählkino und assoziativem Kunstfilm. Es gehe, wie Lynch selbst sagt, „nicht darum, etwas zu verstehen, sondern darum, etwas zu erfahren“. In der Tat fällt es auch nach mehrmaliger Rezeption schwer, die Story hinter den Bildern des Films zu rekonstruieren. Ließ sich Lost Highways narrativer Diskurs noch als in sich verschlungenes Moebius-Band interpretieren und Mulholland Drive als Dualität einander gegenüberstehender erzählter Welten, so löst sich die Erzählung von Inland Empire jenseits der Rahmenhandlung – der Verfilmung eines „verfluchten“ polnischen Drehbuchs – in eine Pluralität kaum zusammenhängender Szenen, Identitäten und Mikrowelten auf.

Bezogen auf die Frage nach der Modellierung verstörender Erzählstrategien im Medium Film stellt Inland Empire vor diesem Hintergrund in zweifacher Weise eine Herausforderung dar: Zum einen wirft der Film die Frage nach Korrelation und Interferenz zwischen Erzählung und Erzähltem auf – führt das verstörende Erzählen von einer offensichtlich gestörten bzw. „verfluchten“ Filmwelt doch gerade nicht zu einem Illusionsbruch und damit zu einer metafiktionalen Haltung des idealen Rezipienten, sondern eher zu einem Moment gesteigerter Immersion. Es geht hierbei also um die Funktionalisierung verstörenden Erzählens im Hinblick auf die erzählte Geschichte.

Zum anderen stellt sich am Beispiel Inland Empire die Frage, inwiefern narratologische Konzepte wie Figur und Diegese oder Verfahren wie Fokalisierung und Metalepsen, auf die verstörende Erzählweisen letztlich zurückgreifen, überhaupt noch stabile analytische Kategorien bilden, wenn sich ein Film zwar vorgeblich im Erzählkino verortet, sich in weiten Teilen der Gestaltung aber gängigen narrativen Konventionen verweigert und die Grenze zum assoziativen Szenen- und Bilderfluss überschreitet. In dieser Hinsicht geht es also um die Reichweite erzähltheoretischer Ansätze auf Mikro-, Meso- und Makroebene eines Films und ihre Bedeutung für das Moment einer verstörenden (ästhetischen) Welterfahrung.


"Verstörendes Erzählen als narratologische Kategorie? Überlegungen zum Zusammenspiel text- und rezeptionsorientierter Analysekriterien am Beispiel von "Crash" (Harley Cokeliss, 1971, und David Cronenberg, 1996)"

Roy Sommer (Wuppertal)

Verstörendes Erzählen ist ein metaphorischer Begriff. Zwar können Filme durchaus verstörend wirken – man denke nur an Dokumentationen von Gräueltaten in Konzentrationslagern oder Bürgerkriegsgebieten, oder an die Exekutionsvideos des sog. IS. Derartige Formen audiovisuellen Erzählens sind aber im vorliegenden Zusammenhang wohl eher nicht gemeint. Vielmehr geht es um narrative Strategien im Film, die in einem solchen Maße gegen Konventionen filmischen Erzählens verstoßen, dass Empathie und Perspektivenübernahme, und damit eine auf Immersion hinauslaufende Rezeptionshaltung verhindert oder zumindest stark erschwert werden. Im ersten Teil des Vortrags werden anhand einiger Beispiele Formen und Funktionen des in diesem Sinne verstörenden Erzählens im Film diskutiert.  In einem zweiten Schritt wird versucht, die Leistungsfähigkeit des Begriffs des verstörenden Erzählens in Abgrenzung von verwandten Begriffen wie dem unnatürlichen, anti-mimetischen, verfremdenden oder illusionsbrechenden Erzählen auszuloten.


Auf- und Zersplitterungen der Wirklichkeit in Jaco Van Dormaels MR. NOBODY (2009).

Dominik Orth (Hamburg)

In Jaco Van Dormaels Mr. Nobody – so zumindest eine von mehreren möglichen Interpretationen, die der Spielfilm durch seine verrätselte Struktur und seine narrativen Paradoxien ermöglicht – imaginiert ein kleiner Junge, wie sein Leben verlaufen könnte; je nachdem wie seine Entscheidung darüber ausfällt, ob er nach der Trennung seiner Eltern bei seiner Mutter oder bei seinem Vater bleiben würde. Dabei entwirft er verschiedene Lebensverläufe, in denen er unterschiedlich verlaufende Liebesbeziehungen mit Freundinnen aus seiner Nachbarschaft hat. Neben dieser Aufspaltung der filmischen Realität weisen jedoch auch diese einzelnen Wirklichkeitsmodelle in sich Widersprüche hinsichtlich der narrativen Fakten auf – die fiktionsinterne Wirklichkeit wird nicht nur auf- sondern auch zersplittert. Dies führt zur Störung der Konsistenz- und Kohärenzbildung in Bezug auf die Ebene der histoire des Films. Die zugrundeliegende Erzählstrategie kann als spezifische Form der Pluralität der narrativen Wirklichkeit analysiert werden, durch die das „verstörende Erzählen“ narrativ umgesetzt wird.

Im Rahmen des Vortrags erfolgt eine analytisch fundierte Gegenüberstellung der divergierenden filmimmanenten Wirklichkeitsmodelle sowie der expliziten und impliziten Widersprüche hinsichtlich der Realität in der Fiktion. Dabei wird insbesondere die für Mr. Nobody spezifische Konstellation der Grundstrukturen des verstörenden Erzählens, also der Umdeutung, der Paradoxie und der Verrätselung aufgezeigt, wobei die Terminologie und die dem Konzept inhärente kombinatorische Dynamik kritisch reflektiert werden soll.


Von Spinnern und Spinnen – Verstörendes Erzählen und die Abkehr von traditionellen Markierungssignalen in ENEMY (2013).

Bernd Leiendecker (Bochum)

Die Erstrezeption von Enemy (Kanada/Spanien/Frankreich 2013, Denis Villeneuve) ist im engen Sinne des Wortes ein verstörendes Erlebnis. Der Plot um den Geschichtsdozenten Adam Bell, der in dem Schauspieler Anthony Claire seinen perfekten Doppelgänger erkennt und von diesem schließlich zum Rollentausch gezwungen wird, endet in Anthonys Wohnung. Hier hat Adam die Nacht mit Anthonys Frau verbracht, doch am nächsten Morgen erblickt er an ihrer Stelle unvermittelt eine menschengroße Spinne.

Mit dieser Überraschung lässt Enemy den Zuschauer allein. Nur durch eine höchst aufmerksame erneute Rezeption lässt sich eine plausible Deutung von Enemy finden, welche die Ereignisse des Films miteinander in Einklang bringt. Alle drei Säulen des verstörenden Erzählens tragen dazu bei. Einerseits legt der Film den Plot Twist nahe, dass Adam und Anthony verschiedene Facetten einer einzigen Person sind. Diese ist von Bindungsangst getrieben und diese Angst wird dadurch visualisiert, dass immer wieder Spinnen als Symbol für begehrenswerte Frauen eingesetzt werden – so auch in der abschließenden Szene. Darüber hinaus betreibt Enemy durch seine komplexen Zeitstrukturen eine schwer durchschaubare Verrätselung: Wie sich herausarbeiten lässt, erzählt Villeneuves Film höchst achronologisch. Mehr noch: Die Geschichte von Adam/Anthony und seinen Beziehungen entwickelt sich schließlich zyklisch zu einer unendlichen Möbiusband-Struktur, einer narrativen Paradoxie, welche die dritte Säule des verstörenden Erzählens miteinbezieht.

Die verstörende Wirkung von Enemy auf den Zuschauer entfaltet sich jedoch vor allem dadurch, dass der Film weitgehend auf Markierungssignale verzichtet und die vorhandenen Signale nicht ausstellt, so dass viele Zuschauer gar nicht bemerken, dass es sich um einen Fall verstörenden Erzählens im engen Sinne zu tun haben. Weder die klassischen Signale für Unzuverlässigkeit oder einen finalen plot twist noch die typischen Orientierungsmittel im Fall von Achronologie sind gegeben. Ziel des Vortrags ist es, diese Abkehr vom „klassischen“ verstörenden Erzählen genauer herauszuarbeiten und dabei ihren Beitrag zum verstörenden Effekt von Enemy zu analysieren. So lässt sich belegen, dass auch verstörendes Erzählen von einer Konventionalisierung bedroht ist, die letztlich gegen den gewünschten Effekt einer solchen Erzählung arbeitet.


Mit durchdrehenden Reifen: Verstörendes Erzählen in RUBBER (2010) von Quentin Dupieux.

Andreas Veits (Hamburg)

Bei Rubber handelt es sich um einen Autoren-Film des Regisseurs Quentin Dupieuxs. Mit Reality (Frankreich 2014) und Wrong (Frankreich 2012) hat Dupieuxs verschiedene Produktionen vorgelegt, die in den vergangenen Jahren großen Einfluss auf das ‚Genre‘ des Puzzle-Films genommen haben.

Rubber vermittelt die Erzählung um einen anthropomorphen Autoreifen, der im Laufe des Films ein Bewusstsein entwickelt, das ihn dazu befähigt, sich gegen die Menschen zu erheben. Dupieuxs Film ist dabei eine Hommage an klassische Horrorfilme vergangener Jahre, in denen ebenfalls ein eigentlich lebloser Gegenstand zum handelnden Protagonisten des Films gemacht wurde (z.B. Elliot Silversteins The Car aus dem Jahr 1977 oder John Carpenters im Jahr 1983 erschienener Film Christine). Gleichzeitig spielt Rubber mit verschiedenen Elementen des Road Movies oder Coming-of-Age Films und dekonstruiert diese Genre-Fragmente.

Wie in den meisten Filmen Dupieuxs werden dabei auf der Discourse-Ebene verschiedene Merkmale des verstörenden Erzählens eingesetzt, die den Mittelpunkt des Vortags bilden sollen.

Hierzu gehört eine metafiktionale Grundstruktur des Films, die unter anderem die Geschehnisse um Robert den Reifen zuerst als intradiegetische Fiktion vermittelt, die von (intradiegetischen) Zuschauern im Film verfolgt wird. Wenig später wird die ontologische Ordnung jedoch aufgebrochen und es wird offenbar, dass die scheinbare Binnenerzählung um einen lebenden Reifen doch Teil der diegetischen Realität zu sein scheint.

Vergleichbares gilt für weitere metaleptische Sequenzen des Films, die wiederholt Fragen von Realität, Wirklichkeit und damit zusammenhängend von Fakt und Fiktion auf den Prüfstand stellen und somit entscheidende Merkmale bieten, die als erzählerische Unzuverlässigkeit interpretiert werden können.

Über Fragen der Darstellung hinausgehend, zeichnen sich der Plot und insbesondere die Charakterisierung der Figuren durch eine extreme Verknappung teleologischer Eigenschaften aus: Warum sich einzelne Figuren auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, was sie für Ziele verfolgen oder was hinter der mysteriösen ‚Geschichte‘ um den lebendigen Reifen steckt, bleibt unbeantwortet und trägt somit zu einer Verrätselung des Films auf der Ebene des Plots bei.


“Ich bin ein komplexes Wesen” – Die fantastisch-paradoxalen Filme von Julio Medem: VACAS (1992) und TIERRA (1996)

Vera Toro (Bremen)

Fantastische Erzählungen werden häufig mit Attributen wie ‚brüchig‘, ‚instabil‘, ‚heterogen‘, ‚komplex‘ versehen und als Quelle eines “irritierenden Effekts“ (cfr. Scheffel 2006: 3) oder gar als „Verfremdungsverfahren“ (Durst 2007: 116) beschrieben.

In diesem Beitrag soll zunächst das Fantastische Erzählen als integraler Bestandteil des transmedialen Konzepts des Verstörenden Erzählens und dort innerhalb der Dimension der narrativen Verrätselung verortet werden. Narrative Verrätselungen verhindern laut Rimmon (1977: 41) eine „constructional homonymity“, d.h., die diskursive Gestaltung des Geschehens be- oder verhindert eine eindeutige Rekonstruktion der erzählten Wirklichkeit. Fantastisches Erzählen basiert speziell auf Ambiguitäten bezüglich des ontologischen Status‘ der erzählten Welt bzw. einiger ihrer Elemente.

Die exemplarische Analyse dreier Filme des spanisch-baskischen Regisseurs und Drehbuchautors Julio Medem soll anschließend zeigen, wie der Modus des Fantastischen mit weiteren Verrätselungsstrukturen kombiniert und darüber hinaus durch bestimmte paradoxale Erzählverfahren wie z.B. Metalepsen hervorgerufen wird, wobei diese Kombination verrätselnder und paradoxaler Erzählstrategien Medems Filme als verstörend erzählte ausweisen.

Literatur:

Durst, Uwe (2007): Theorie der phantastischen Literatur, Berlin

Rimmon, Shlomith (1977): The Concept of Ambiguity – the Example of James, Chicago/London: Univ. of Chicago Press.

Scheffel, Michael (2006): “Was ist Phantastik? Überlegungen zur Bestimmung eines literarischen Genres”, in: Hömke, Nicola/Baumbach, Manuel (eds.): Fremde Wirklichkeiten. Literarische Phantastik und antike Literatur, Heidelberg: Winter, 1-17.


Nächtliche Spiele, verstörend erzählt: Juegos nocturnos (1992) von Pablo Gómez Sáenz Ribot

Sabine Schlickers (Bremen)

Der zweisträngige, verstörend erzählte Kurzfilm Juegos nocturnos (9´´) des mexikanischen Regisseurs Pablo Gómez Sáenz Ribot weist ein paradoxales Zusammenspiel zwischen der virtuellen Welt eines Videospiels und der fiktional-realen Welt eines Einbruchs nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren auf und kann, wie in meinem Beitrag aufgezeigt werden soll, auf drei verschiedene Arten modelliert werden. Durch die Kombination von Elementen der paradoxalen Erzählung und der Verrätselung in Form fantastischer Elemente ist dieser Kurzfilm ein genuiner Vertreter des verstörenden Erzählens.