Inferenz

Inferenz [(lat. infero; hineintragen; folgern, schließen); engl. inference].

Folgerung in Logik und natürlicher Sprache; Schluß, der vom logischen Gehalt abgeleitet oder aufgrund einer Äußerung als wahrscheinlich gezogen wird, z.B. Hätte Anne auf mich gehört, dann hätte sie Hans nicht geheiratet. Jetzt muß sie für ihren Entschluß zahlen (I. Bellert). Solche I. oder Folgerungen ergeben sich aus dem sprachlichen Wissen und der Kenntnis der Sprecher/Hörer von der Welt. In Gesprächen werden I. gezogen, um die Annahme des Kooperationsprinzips zu validieren. Auslöser für I.-prozesse können syntaktische, semantische oder pragmatische Faktoren sein (Hans möchte das Buch haben (Funktion von Objekten), Das Kind rannte auf die Straße. Hans rannte ihm nach (Funktion von Handlungen), Hans konnte nicht über den Zaun springen (Funktion/Intention von Aussagen)). In der Alltagskommunikation bilden oft Rahmen, Schemata oder Szenen die Basis für (pragmatische) I., z. B. Restaurant, Einkauf, Abreise usw. (vgl. dazu Wettler 1980, Kintsch 1982). Bei angemessenen Äußerungen gründen I. sich aufeinen Komplex von sprachlichem und enzyklopädischem Wissen, z. B. Annes ältester Sohn hat Warschau verlassen, um an der Sorbonne zu studieren (Anne hat einen Sohn, Anne hat mehr als zwei Kinder, Annes ältester Sohn ist nach Frankreich gereist, Er ist Student, Wissenschaftler oder Künstler, Er hat die Hochschulreife erworben usw. - I. Bellert 1970).

Faßt man I.-en als Implikationen auf, die Äußerungen oder Texte für einen Hörer oder Leser enthalten, so ist die Fähigkeit, I. zu ziehen, konstitutiver Bestandteil der Fähigkeit zum Sprachgebrauch als engem Miteinander sprachlicher und kognitiver Komponenten (s. dazu auch ->indirekter Sprechakt). I. ist ein kognitiver Prozeß, in dem Textinhalte und Erfahrungsinhalte in Beziehung gesetzt werden; die Kreativität des Hörers/Lesers kommt in der Durchführung von I. zum Ausdruck. Dabei können die Grenzen zwischen Semantik und Wissen von der Welt fließend werden. Solche I. sind von deduktiver und induktiv-probabilistischer Art; es sind aber auch unterschiedlich bedingte konnotative, affektive und evaluative, assoziative und interpretative Prozesse (van de Velde l98l). Das Wissen von Sprechern einer natürlichen Sprache enthält das Wissen phonologischer, syntaktischer, semantischer und pragmatischer Konventionen sowie das Wissen über mögliche I. (Petöfi 1978).

Beim Verstehen von Texten ist I. eine rekonstruktive oder konstruktive Operation des Rezipienten, durch die störungsbedingte, zufällige oder strategisch angelegte Diskontinuitäten des Textes zur Bildung von ->Kohärenz überformt werden. Hat der Hörer/Leser ausgedehntere und differenziertere Kenntnisse als der Sprecher/Schreiber, kann er aus Äußerungen/Texten mehr I. ziehen. Bei der Erinnerung bzw. Wiedergabe von Texten können weitergehende I.-prozesse auftreten. Bei Versuchen zur Textrezeption ist die Unterscheidung zwischen sprachlich erklärbaren Inhalten und solchen, die aus dem Langzeitspeicher inferenziell produziert werden, oft nicht eindeutig (Ausschmückung und Ausgestaltung im eigenen Sinne, Angleichung der Textwelten ) .

Auf Vorwissen wird zurückgegriffen, wenn der Text diskontinuierlich oder problematisch (u. U. auch leer) im Hinblick auf Züge von Personen, Ort und Zeit, Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel erscheint. Bei älteren Texten kann das angemessene Verstehen unerreichbar sein, weil Zeitumstände, Glauben und Wissen des Autors nicht mehr erreichbar sind.

Ansätze zu I.-regeln ergeben sich aus Mengen- oder Gruppenzugehörigkeiten, aus der Kasus- oder Rollenstruktur von Verben, aus Schemata oder Konzepten von Handlungen, Ereignissen usw.

Vgl. ->Folgerung, Implikation, Kohärenz, Interpretation.

de Beaugrande R.-A. Dressler W., Einführung in die Textlinguistik. 1981. Bellert I., On a condition of the coherence of texts. Semiotica 2; 1970; dt. in: Kallmeyer W u. a., Lektürekolleg zur Textlinguistik. Bd. 2, 1974. Crothers E. J., Paragraph structure inference. 1979. Clark H. H., Inferences in comprehension In: Laberge D. Samuels S.J., Hrsg., Basic processes in reading. 1977. Görz G., Inferenzen in einem natürlich-sprachlichen Dialogsystcm. In: Metzing D., Hrsg., Dialogmuster und Dialogprozesse. 198I. Habel Chr., Inferences -the base of semantics? In: Bäuerle R. u. a., Hrsg., Meaning, use, and interpretation of language. 1983. Kintsch W., dt. Gedächtnis und Kognition. 1982. Levinson St. C., Pragmatics. 1983. Noordman L. G. M., Inferring from language. 1979. Parker-Rhodes F., Inferential semantics. 1978. Rickheit G. Kock H., Inference processes in text comprehension. In: Rickheit G. Bock M.. Hrsg., Psycholinguistic studies in language processing. 1983. Schank R. Rieger Ch. J., lnference and the computer understanding of natural language. Artificial lntelligence 5, 1974. Selz O., Zur Psychologie des produktiven Denkens und Irrtums. 1922. van de Velde R. G., Interpretation, Kohärenz und Inferenz. 1981 . Wettler M., Sprache, Gedächtnis und Verhalten. 1980.