Textverstehen

Textverstehen [text comprehension]. Nach Ingarden (1931, 3/1965) erfassen wir den Text als ganzen durch das Verstehen der einzelnen Sätze; sie sind das Zugrundeliegende, das zuerst vorliegen muß, damit das Ganze sich konstitutiert. Das Werk ist das Abhängige, das sich aus dem gesamten Sinngehalt und aus der Anordnung der einzelnen Sätze ergibt. Der Sinngehalt der Sätze jedoch wird nicht ausschließlich durch die Wortbedeutungen bestimmt, sondern oft durch die Sinngehalte anderer Sätze (S. 154f.).  

Nach Coseriu (1971) ist die Texterwartung nicht nur syntagmatisch, sondern zugleich paradigmatisch: Sie zielt auf die Globalität des Textes, und man versteht den Anfang eines Textes weiter und besser, wenn man ihn zuende gelesen hat. Nach Iser besteht der Prozeß des T. im ständigen Ausgleich von surprise und frustration. Der Leser muß die Anschlußstelle suchen und die Unbestimmtheitsstellen/Leerstellen füllen. Vom Ende her ergibt sich eine andere Erwartungskette, als sie der Anfang bereitzuhalten schien.  

Eine Voraussetzung für das T. ist der Aufbau einer kontingenten Ebene durch semantische Isotopie (Greimas). Das T. wird gesteuert durch unmittelbar gegebene Textsegmente, durch den Vor- und Folgetext, die Situation und den allgemeinen Texthorizont sowie durch den jeweiligen Erfahrungs- und Wissensspeicher (Scherner). Kognitive Schemata oder Rahmen können erklären, wie ein an der Oberfläche nicht kohärenter Text als sinnvoll rezipiert wird. Andererseits expliziert jeder Text nur einen Teil des Gemeinten; manches wird vorausgesetzt, anderes wird impliziert, und vieles ergibt sich durch Folgerung. Nicht selten werden Erwartungen auf den Text projiziert, die er nicht erfüllt. Das (subjektive) Erlebnis des T. kann sich gewohnheitsgemäß einstellen, wenn bestimmte Reiz- oder Signalwörter, bekannte Wendungen usw. erscheinen.  

Vgl. ->Textverarbeitung, Interpretation, Lesen, Verstehen; Kohärenz.  

Coseriu E., Textlinguistik. Eine Einführung. 1980. van Dijk T. A. Kintsch W., Strategies of discourse comprehension. 1983. Hoppe-Graff S., Verstehen als kognitiver Prozep. Psychologische Ansätze und Beiträge zum Textverstehen. Lili l4; 1984. Ingarden R., Das literarische Kunstwerk. 3/1965. Iser W., Der implizite Leser. 1972. Ders., Der Akt des Lesens. 1976 Rollinger C.-R., Hrsg., Probleme des (Text-)verstehens. Ansätze der Künstlichen Intelligenz. 1984. Scherner M, Theorie und Technik des Textverstehens. 1974. Ders., Sprache als Text. Ansätze zu einer sprachwissenschaftlich begründeten Theorie des Textverstehens. 1984. Stempel W.-D., Hrsg., Beiträge zur Textlinguistik 197l. Winograd T., What does it mean to understand language? Cognitive Science 4, 1980.