Kapitel 1: Allgemeine Grundbegriffe
1.1 Was ist Linguistik?
Linguistik ist eine neuere, und im Hinblick auf die Entsprechungen in anderen Sprachen
(engl. linguistics, frz. linguistique, it. linguistica, sp.
lingüística), auch internationalere Bezeichnung für den herkömmlichen Begriff
Sprachwissenschaft. Es gibt im deutschen Sprachraum allerdings Tendenzen einer Bedeutungsverschiebung,
wobei die Bezeichnung Linguistik speziell für die moderne, strukturalistisch orientierte
Sprachwissenschaft verwendet wird. Besonders in der Pluralform ‘Sprachwissenschaften’
wird ‘Sprachwissenschaft’ häufig auch synonym mit ‘Philologie’
benutzt, schließt also z.B. die Literaturwissenschaft mit ein. Anglistik, Romanistik,
Slawistik etc. sind ‘Sprachwissenschaften’ in diesem Sinne.
Wir werden im folgenden allerdings Linguistik und Sprachwissenschaft synonym gebrauchen.
Im hier intendierten Sinne ist Sprachwissenschaft allgemein die Wissenschaft von
der Sprache. Daraus ergeben sich zwei weiterführende Fragen:
- Was verstehen wir in diesem Zusammenhang eigentlich unter Sprache?
- Was heißt es, Sprache wissenschaftlich zu erforschen.
Sprache ist etwas, das alle Aspekte des menschlichen Lebens durchdringt und somit
in den vielfältigsten Zusammenhängen eine wesentliche Rolle spielt. Die Frage "Was
ist Sprache?" ist — wie John Lyons (Lyons 1982:1) sich ausdrückt —
nicht weniger profund als die Frage "Was ist Leben?". In einer Hinsicht
ist das gesamte Streben der Sprachwissenschaft seit ihren allerersten Anfängen darauf
gerichtet gewesen, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Von daher ist es müßig,
eine einfache Definition von Sprache geben zu wollen. Die Definition findet sich
gewissermaßen in allem, was über Sprache bisher gesagt worden ist. Der britische
Linguist Geoffrey Leech äußert sich zu dem vergleichbaren Versuch, den Begriff "Bedeutung"
als Gegenstand der Semantik definieren zu wollen, wie folgt:
An autonomous discipline begins not with answers, but with questions. We might say
that the whole point of setting up a theory of semantics is to provide a ‘definition’
of meaning– that is, a systematic account of the nature of meaning.
To demand a definition of meaning before we started discussing the subject
would simply be to insist on treating certain other concepts, e.g. stimulus and
response, as in some sense more basic and more important. A physicist does not have
to define notions like ‘time’, ‘heat’, ‘colour’,
‘atom’ before he starts investigating their properties. Rather, definitions,
if they are needed, emerge from the study itself.
Once this commonplace is accepted, the question of how to define meaning
[...] is seen in its true colour as a red herring. (Leech 1981:4)
Dies läßt sich nahezu direkt auf unseren Fall übertragen, wenn man nur die entsprechenden
Ausdrücke austauscht: "... the whole point of setting up a linguistic theory
is to provide a definition of language – that is, a systematic account
of the nature of language, etc."
Wenn wir uns im folgenden dennoch mit der Frage "Was ist Sprache?" beschäftigen,
dann mit der Absicht, den Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft ungefähr abzustecken
und eine Reihe wichtiger begrifflicher Unterscheidungen zu diskutieren, die für
die Gegenstandsbestimmung von Bedeutung sind.
1.2 Der Gegenstand der Linguistik
1.2.1 Sprache als Alltagsbegriff
Sprache — und entsprechende Ausdrücke in anderen Sprachen — ist
ein Wort unserer Alltagssprache, und wir wissen intuitiv, was es in unterschiedlichen
Verwendungszusammenhängen bedeutet. Bei genauerer Betrachtung läßt sich allerdings
feststellen, daß das Wort Sprache dabei je nach Kontext ganz unterschiedliche
Bedeutungen hat. Es ist daher sinnvoll, eine Reihe begrifflicher Unterscheidungen
zu treffen.
Die Frage "Was ist Sprache?" ähnelt, oberflächlich betrachtet, der Frage
"Was ist eine Sprache?". Es bestehen allerdings Unterschiede, sowohl in
der Form als auch in der Bedeutung, zwischen beiden Sätzen (Lyons 1981:1f.). Im
ersten Satz wird das Wort Sprache ohne Artikel benutzt und benennt etwas,
worüber der Mensch im Gegensatz zu anderen Lebewesen als Gattung verfügt und was
ihm ermöglicht, eine spezifische Sprache zu lernen und zu sprechen. Im zweiten Satz
wird das Wort Sprache mit dem unbestimmten Artikel eine benutzt und
bezeichnet eine Einzelsprache, wie sie in einer Sprachgemeinschaft verwendet würde,
wie z.B. Deutsch oder Englisch. Während in der deutschen oder der englischen Sprache
dem Bedeutungsunterschied zwischen den beiden Sätzen mithilfe des Artikels Rechnung
getragen wird, gibt es einige europäische Sprachen, die über zwei Wörter für Sprache
verfügen, welche den beiden Bedeutungen in etwa entsprechen:
Englisch
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language
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Deutsch
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Sprache
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Französisch
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langage
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langue
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Italienisch
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linguaggio
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lingua
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Spanisch
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lenguaje
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lengua
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So bezeichnet z.B. im Französischen das Wort langage Sprache im allgemeinen,
das Wort langue bezieht sich auf bestimmte Sprachen. Das englische Wort language
verhält sich wie das deutsche Wort Sprache; es ist mehrdeutig und kann sowohl
langage als auch langue bedeuten. Die folgenden Beispiele sollen die
Mehrdeutigkeit des Wortes Sprache verdeutlichen:
1.1.
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(a) Er spricht fünf Sprachen
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(b) Er spricht Deutsch (= Er kann Deutsch)
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(c) Er spricht jetzt deutsch
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(d) Die Sprache Goethes
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(e) Eine natürliche (kunstvolle, gezierte, geschraubte etc.) Sprache sprechen
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(f) Die Sprache der Bienen; Programmiersprachen
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Im Beispielsatz (1.1.)(a) bezieht sich Sprache auf mehrere Einzelsprachen;
(1.1.)(b) bedeutet soviel wie Er ist der deutschen Sprache mächtig und bezieht
sich ebenfalls auf Sprache in der Bedeutung des französischen langue. Im
dritten Beispielsatz kommt eine neue Bedeutung in Bezug auf Sprache hinzu. Der Ausdruck
(1.1.)(c) kann mit Die Äußerungen, die er gerade macht, können als deutsch identifiziert
werden umschrieben werden, es geht also um Sprache im tatsächlichen Gebrauch
oder um Sprache als Produkt. Im Französischen gibt es dafür ein eigenes Wort: parole.
Im vierten Beispielsatz wird Sprache verwendet, um die linguistischen Eigenheiten
eines Einzelnen, seinen Stil, zu benennen. Am fünften Beispielsatz wird deutlich,
daß es innerhalb einer Einzelsprache unterschiedliche Stilebenen gibt, die, je nach
Situation, angebracht oder unangebracht sein können.
Wie wir gesehen haben, verhält sich das deutsche Sprache hinsichtlich der
Bedeutung von langage und langue ebenso mehrdeutig wie das englische
language. Das nächste Beispiel zeigt eine weitere Mehrdeutigkeit des Wortes
Sprache, die beim englischen language nicht vorkommt:
Zwei Personen A und B treffen sich beim Spaziergang im Park und es kommt zu folgendem
Dialog:
- In meinem Haus wohnt ein Professor, der spricht fünf Sprachen. Und
stellen Sie sich vor, jetzt hat er die Sprache verloren.
- Ja welche denn?
Warum wirkt das erheiternd? Weil das Wort Sprache in er spricht fünf Sprachen
(he speaks five languages) eine andere Bedeutung hat als in er hat die Sprache
verloren (he lost his speech). In der englischen Übersetzung müßten
auch tatsächlich zwei unterschiedliche Wörter benutzt werden, language einerseits
und speech andererseits, und somit hätte der Witz die Basis verloren.
Das Ziel dieser Überlegungen war es zunächst, zu verdeutlichen, daß das Wort Sprache
in seiner alltagssprachlichen Verwendung ganz unterschiedlichen Bedeutungen hat
und daher als wissenschaftlicher Begriff nicht sonderlich geeignet ist. Leider ist
es häufig der Fall, daß Wörter, wie sie in der Alltagssprache gebraucht werden,
zu vage und mehrdeutig sind, um ohne weiteres als Bestandteil einer wissenschaftlichen
Terminologie bestehen zu können.
1.2.2 Was ist Sprache als Gegenstand der Linguistik?
Was liegt näher, als die Linguisten selber zu ihrem Forschungsgegenstand zu befragen?
Die folgenden Beispiele mögen einen exemplarischen Eindruck davon geben, wie bedeutende
Sprachforscher ihren Gegenstand definieren.
Der deutschstämmige amerikanische Sprachwissenschaftler und Anthropologe Edward
Sapir definiert den Gegenstand der Linguistik wie folgt:
Language is a purely human and non-instinctive method of communicating ideas, emotions
and desires by means of a system of voluntarily produced symbols. (Sapir 1921: 8).
Die zentralen Begriffe dieser Definition sind method of communication und
system of symbols. Von Kommunikation und Sprache als Zeichensystem wird im
Kapitel Semiotik ausführlicher die Rede sein. Sapirs Definition ist, wie
John Lyons ausführt, in mancher Hinsicht unbefriedigend:
This definition suffers from several defects. However broadly we construe the terms
‘idea’, ‘emotion’ and ‘desire’, it seems clear
that there is much that is communicated by language which is not covered by any
of them; and 'idea' in particular is inherently imprecise. On the other
hand, there are many systems of voluntarily produced symbols that we only count
as languages in what we feel to be an extended or metaphorical sense of the word
'language'. For example, what is now popularly referred to by means of the
expression ‘body language’ — which makes use of gestures, postures,
eye-gaze, etc. — would seem to satisfy this point of Sapir's definition.
Whether it is purely human and non-instinctive is, admittedly, open to doubt. But
so too, as we shall see, is the question whether languages properly so called are
both purely human and non-instinctive. This is the main point to be noted in Sapir's
definition.
(Lyons 1981: 3f.)
Sapirs Zeitgenosse Leonard Bloomfield unternahm in den zwanziger Jahren den Versuch,
die Sprachwissenschaft methodisch nach dem Stand der damals entwickelten Wissenschaftstheorie
zu systematisieren. Seinen Niederschlag fand dieser Versuch in dem 1926 in der kurz
davor von ihm mitbegründeten Zeitschrift Language erschienen Aufsatz "A
Set of Postulates for the Science of Language ". Er definiert darin Sprache
mithilfe der Begriffe Utterance und Speech-Community wie folgt:
The totality of utterances that can be made in a speech-community is the language
of that speech-community. (Bloomfield 1926: 153)
Sprache bedeutet für Bloomfield also die Menge aller potentiellen Äußerungen in
einer Sprachgemeinschaft. Oberflächlich betrachtet scheint es hier Gemeinsamkeiten
zu geben mit der folgenden Definition von Noam Chomsky:
From now on I will consider a language to be a set (finite or infinite) of
sentences, each finite in length and constructed out of a finite set of elements.
(Chomsky 1957: 13)
Chomskys Definition ist jedoch viel umfassender und allgemeiner. Was nach dieser
Definition eine Sprache im konkreten Fall ist, hängt nämlich davon ab, aus welchen
Elementen sie aufgebaut ist. So bilden danach z.B. alle symbolischen Ausdrücke der
Mathematik eine Sprache. Beispielsweise ist der Ausdruck (a+b)² = a² +
2ab +b² ein Satz in der Sprache der Mathematik, während der Ausdruck
²)+ab( a2b=²b kein Satz dieser Sprache ist. Natürliche Sprachen
sind dann nur eine besondere Art von Sprache nach obiger Definition:
All natural languages in their spoken and written form are languages in this sense,
since each natural language has a finite number of phonemes (or letters in its alphabet)
and each sentence is representable as a finite sequence of these phonemes (or letters),
though there are infinitely many sentences. Similarly, the set of ‘sentences’
of some formalized system of mathematics can be considered a language. (Chomsky
1957: 13)
Chomskys Definition unterscheidet sich, wie John Lyons ausführt, auch in anderer
Hinsicht von den vorherigen:
It says nothing about the communicative function of either natural or non-natural
languages; it says nothing about the symbolic nature of the elements or sequences
of them. Its purpose is to focus attention upon the purely structural properties
of languages and to suggest that these properties can be investigated from a mathematically
precise point of view. It is Chomsky's major contribution to linguistics to
have given particular emphasis to what he calls the structure-dependence
of the processes whereby sentences are constructed in natural languages and to have
formulated a general theory of grammar which is based upon a particular definition
of this property. (Lyons 1981: 7f.)
Der britische Sprachwissenschaftler M.A.K. Halliday schließlich betrachtet Sprache
als etwas Dynamisches:
Language does not exist, it happens. It is neither an organism, as many nineteenth-century
linguists saw it, nor an edifice [Gebäude, KHW], as it was regarded in the early
modern ‘structuralist’ period of linguistics. Language is an activity
basically of four kinds: speaking, listening, writing and reading.
(Halliday et al. 1964: 9)
Es scheint, als hätte jeder Linguist eine eigene Definition von Sprache. Bis jetzt
haben wir Sprache kennengelernt als
- Symbolsystem zur Kommunikation (Sapir 1921)
- die Gesamtheit der möglichen Äußerungen in einer Sprachgemeinschaft (Bloomfield
1926)
- eine Menge von Sätzen (Chomsky 1957)
- eine Tätigkeit (Halliday et al. 1964)
In Theodor Lewandowskis linguistischem Wörterbuch (Lewandowski 1990) sind unter
dem Stichwort Sprache noch ca. 15 weitere Aspekte aufgeführt, unter welchen
uns das Phänomen Sprache erscheint.
Einige Sprachwissenschaftler haben das Problem umgangen, indem sie Sprache überhaupt
nicht, oder nicht explizit, definieren. Stattdessen werden nur bestimmte Aspekte
der Sprache als Gegenstand linguistischer Untersuchung herausgegriffen. Der amerikanische
Strukturalist H.A. Gleason sagt z.B.:
Language has so many interrelationships with various aspects of human life that
it can be studied from numerous points of view. All are valid and useful, as well
as interesting in themselves. Linguistics is the science which attempts to understand
language from the point of view of its internal structure. (Gleason 1961: 2)
Wichtig erscheint hier die Vorstellung eines Point of View, aus dem heraus
ein Gegenstand betrachtet wird. Auf dieses Konzept wird im nächsten Abschnitt näher
eingegangen. Eine vergleichbare, doch allgemeinere Ansicht vertritt der britische
Linguist R.H. Robins:
Language in all its forms and manifestations, that is all the languages of the world
and all the different uses to which in the various circumstances of mankind they
are put, constitutes the field of the linguist. He seeks a scientific understanding
of the place of language in human life, and of the ways in which it is organized
to fulfil the needs it serves and the functions it performs. (Robins 1964: 2 f.)
Die unterschiedlichen Definitionen zeigen, daß es keine einstimmige Meinung über
den Gegenstand der Linguistik gibt, und daß dieser offensichtlich nicht leicht zu
definieren ist. Die Linguisten, scheint es, befinden sich in der gleichen Lage wie
die blindgeborenen Bettler, über die folgende Parabel berichtet:
Die Blinden und der Elefant
Es war einmal, so erzählt Buddha, ein König von Benares, der rief zu seiner Zerstreuung
etliche Bettler zusammen, die von Geburt an blind waren und setzte einen Preis aus
für denjenigen, der ihm die beste Beschreibung eines Elefanten geben würde. Zufällig
geriet der erste Bettler, der den Elefanten untersuchte, an dessen Bein, und er
berichtete, daß der Elefant ein Baumstamm sei. Der zweite, der den Schwanz erfaßte,
erklärte, der Elefant sei wie ein Seil. Ein anderer, welcher ein Ohr griff, beteuerte,
daß der Elefant einem Palmenblatt gleiche und so fort. Die Bettler begannen untereinander
zu streiten, und der König war überaus belustigt.
Um dennoch eine angemessene Beschreibung zu erzielen, bietet es sich an dieser Stelle
an, eine begriffliche und terminologische Unterscheidung zu treffen.
1.3 Materialobjekt vs. Formalobjekt
1.3.1 Der Gegenstand als Materialobjekt
Bereits Ferdinand de Saussure, der Hauptbegründer des europäischen Strukturalismus,
unterschied in seinen Vorlesungen Anfang des Jahrhunderts zwischen dem Stoff der
Sprachwissenschaft ("la matière de la linguistique") und dem Gegenstand
der Sprachwissenschaft ("l'objet de la linguistique"). Die Einleitung
seines später sehr einflußreichen Cours de linguistique générale (1916)
enthält ein sehr kurzes zweites Kapitel, in dem es heißt: "La matière
de la linguistique est constituée d'abord par toutes les manifestations
du langage humain." (Saussure 1916: 20) Das unmittelbar folgende Kapitel hat
jedoch die Überschrift Objet de la linguistique und im ersten Abschnitt dieses
Kapitels sagt de Saussure "Bien loin que l'objet précède
le point de vue, on dirait que c'est le point de vue qui crée l'objet"
(Saussure 1916: 23).
Ferdinand de Saussure unterscheidet also zwischen dem Stoff und dem Gegenstand
der Linguistik, wobei letzterer von der Betrachtungsweise des Forschers abhängt.
Nach de Saussure ist diese Unterscheidung eine Besonderheit der Linguistik. Einem
Vorschlag des russischen Psycholinguisten A.A. Leont'ev (1971: 15ff.) folgend
möchte ich jedoch allgemein zwischen dem Materialobjekt und dem Formalobjekt einer
Wissenschaft unterscheiden. Dies ist allerdings keine neue Unterscheidung. Schon
im Wissenschaftsbetrieb der mittelalterlichen Scholastik wurde zwischen dem konkreten
obiectum materiale und dem abstrakten obiectum formale unterschieden.
Definition 1.1. Materialobjekt
Das Materialobjekt (= Objekt bei Leont'ev) einer Wissenschaft besteht aus der
Gesamtheit der zu untersuchenden konkreten Erscheinungen der objektiven Realität,
die vor einer Wissenschaft und unabhängig von ihr, vom Forscher, seinem Bewußtsein
und seinen Betrachtungsweisen existieren.
Das Materialobjekt existiert also schon bevor irgend jemand sich wissenschaftlicher
oder anderweitig damit beschäftigt. In diesem Sinne kann man sagen, daß verschiedene
Wissenschaften das gleiche Materialobjekt untersuchen können, wenn auch aus unterschiedlichem
Blickwinkel und mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen. So ist das ‘Phänomen
Sprache’ das Materialobjekt (wenn auch nicht das einzige) von so verschiedenen
Disziplinen wie Philosophie, Psychologie, Soziologie, Physiologie, Medizin, etc.
Obwohl sie es alle mit dem gleichen Objekt zu tun haben, betrachten sie es aus ganz
unterschiedlichen Blickwinkeln und mit ganz verschiedenen Zielsetzungen und schaffen
damit je verschiedene Formalobjekte als wissenschaftliche Untersuchungsgegenstände.
Um zu unserer Parabel zurückzukommen: Der Elefant entspricht unserem Materialobjekt.
Die Blinden sind die Wissenschaftler, die dieses Objekt notgedrungen jeweils nur
unter einem bestimmten Blickwinkel betrachten, wodurch Beschreibungen entstehen,
die partiell und von der Wirklichkeit mehr oder weniger weit entfernt sind. Die
Parabel zeigt auch, daß das unbekannte Objekt unter Bezug auf bereits Bekanntes
erfaßt wird: Der Elefant ist wie ein Baumstamm, wie ein Seil, wie ein Palmenblatt.
Sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Eigenschaften eines gegebenen Materialobjektes
richten und dabei andere Eigenschaften des gleichen Objektes — wenn auch nur
vorübergehend — außer Acht lassen, machen wir eine Abstraktion. Wir abstrahieren
von bestimmten real vorhandenen Eigenschaften des Objektes, um dafür andere Eigenschaften
umso mehr in den Vordergrund zu rücken. Das Resultat einer solchen Abstraktion können
wir ein abstraktes Objekt nennen.
In gewisser Weise ist diese Tätigkeit vergleichbar mit der eines Bildhauers, der
aus einem rohen Stein durch Wegschlagen des Irrelevanten eine bestimmte Gestalt
herausarbeitet.
Nehmen wir zum besseren Verständnis ein linguistisches Beispiel: Vom rein physikalischen
Standpunkt aus betrachtet ist der Redefluß als stoffliche Manifestation einer sprachlichen
Äußerung ein Kontinuum. Dies gilt sowohl für die Erzeugung eines Sprachschalles,
weil die Sprechorgane, die an seiner Realisierung beteiligt sind, z.B. die Lippen
und Zunge, sich kontinuierlich bewegen, als auch für das Produkt, den Schall selbst.
Abb. 1.7. zeigt z.B. die graphische Darstellung Wellenform des Sprachausschnitts
available to us [əvɛiləbl tʊ əz]
aus einer Sprachaufnahme von Noam Chomsky in ihrem zeitlichen Verlauf.
Abb. 1.8. Wellenform von available to us
(gesprochen von Noam Chomsky)
Wenngleich an einigen Stellen deutlich Segmente erkennbar sind, ist es jedoch insgesamt
schwierig, genau festzustellen, wo ein Laut aufhört und der andere beginnt. Wir
haben jedoch gelernt — insbesondere im Zusammenhang mit der Alphabetisierung
—, die an sich kontinuierliche Rede als Folge von wohlunterschiedenen, abgegrenzten
Einheiten aufzufassen. Bezogen auf die Erzeugung können wir dies bewerkstelligen,
indem wir nur extreme Stellungen der Sprechorgane berücksichtigen und die Übergänge
zwischen diesen Extrempositionen außer Acht lassen. Bei der Äußerung des Wortes
Papa (phonetisch: [paːpaː]) beginnt
die erste Silbe mit einem völligen Verschluß der Lippen, während der Silbenauslaut
([a]) mit maximaler Öffnung des Mundes hervorgebracht
wird. Zwischen diesen beiden Extrempositionen — völliger Verschluß und maximale
Öffnung — gibt es jedoch eine Reihe von Übergangsstellungen, die als irrelevant
betrachtet werden. Indem wir dies tun, schaffen wir jedoch abstrakte Objekte, die
wir Laute nennen.
Es ist wichtig, daß wir uns stets vor Augen halten, daß die meisten Gegenstände,
mit denen wir es in den Wissenschaften zu tun haben, abstrakte, d.h. durch Abstraktion
aus dem Materialobjekt erzeugte Objekte sind. Die Menge der abstrakten Objekte in
diesem Sinne bilden das Formalobjekt einer Wissenschaft.
Definition 1.2. Formalobjekt
Das Formalobjekt (= Gegenstand bei Leont'ev) einer Wissenschaft ist die Gesamtheit
der Abstraktionen, die dadurch geschaffen werden, daß das Materialobjekt aus unterschiedlichen
Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen untersucht wird.
Da Sprache ein alle Lebensbereiche durchziehendes Phänomen ist, ist es nicht verwunderlich,
daß es in der Alltagssprache eine Reihe von Ausdrücken gibt, die sich auf sprachliche
Gegenstände beziehen: Laut, Buchstabe, Silbe, Wort, Satz, Sprache, Bedeutung.
Sie sind uns so geläufig, daß wir sie als etwas sehr Konkrektes betrachten. In Wirklichkeit
jedoch handelt es sich bei all diesen Dingen um Abstraktionen im oben gezeigten
Sinne.
1.3.3 Entstehungsbedingungen wissenschaftlicher Gegenstände
Da das Formalobjekt einer Wissenschaft erst durch die Betrachtungsweise entsteht,
ist es klar, daß es der geschichtlichen Entwicklung dieser Wissenschaft unterworfen
ist. Die Zusammensetzung des Formalobjektes einer wissenschaftlichen Disziplin zu
einem bestimmten Zeitpunkt ist von einer Reihe von Faktoren wie z.B. den folgenden
abhängig:
- dem Entwicklungsstand der Wissenschaft,
- den subjektiven und objektiven Erkenntnisinteressen,
- den wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Grundpositionen des Forschers,
- gewissen Abgrenzungsproblemen.
Entwicklungsstand der Wissenschaft
Daß das Formalobjekt einer Wissenschaft von deren Entwicklungsstand abhängt, ist
offensichtlich, schließlich soll es, im Idealfall, auf dem Wissen fußen, das sich
im Laufe der Zeit in dieser Wissenschaft angesammelt hat.
Das Formalobjekt einer Wissenschaft hängt aber auch von der Entwicklung innerhalb
anderer wissenschaftlicher Disziplinen ab. So profitierte die Sprachwissenschaft
von den Fortschritten der allgemeinen wissenschaftlichen Methodologie, der Wissenschaftstheorie,
der Physik, Physiologie und Technologie. Erfindungen wie das Grammophon, das Tonbandgerät,
der Lautspektrograph und vor allen Dingen der Computer hatten großen Einfluß auf
die Entwicklung der Linguistik.
Subjektive und objektive Erkenntnisinteressen
Die Sprachforschung ist seit ihren ersten Ansätzen sowohl von subjektiven als auch
von objektiven Erkenntnisinteressen vorangetrieben worden. Zum einen wird Sprache
mit dem Ziel untersucht, die Wißbegier eines individuellen Wissenschaftlers zu befriedigen.
Zum anderen stehen ganz spezifische, sozial relevante Fragen hinter der Untersuchung.
Dazu einige historische Beispiele (nach Robins 1973:8ff):
Im Chinesischen Altertum entsprang die Sprachwissenschaft aus der Untersuchung
klassischer literarischer Texte und diente dazu, ein System zu entwickeln, mit dem
das aus einer Bilderschrift entstandene Schriftsystem der Chinesischen Sprache systematisch
dargestellt werden konnte.
Ein Hauptanliegen der Sprachwissenschaft im alten Indien war die semantische,
syntaktische und phonologische Beschreibung des Sanskrit, der klassischen Sprache
Indiens, um so die ursprüngliche Reinheit der heiligen Texte zu erhalten, die seit
der ältesten vedischen Periode (um 1100 v.Chr.) mündlich überliefert waren. Dank
der vorzüglichen Arbeit indischer Phonetiker (in der Zeit von 800–150 v.Chr.)
wissen wir über die Aussprache des Sanskrit mehr als über die irgendeiner anderen
alten Sprache.
Die arabische Sprachwissenschaft wurde sowohl von religiösen als auch von
weltlichen Bedürfnissen motiviert. Durch territoriale Expansion und die Verbreitung
des Islam in nicht-arabischen Ländern wurde in diesen eine ausreichende Kenntnis
der arabischen Sprache notwendig, um die Handelspolitik, die Verwaltung und die
Rechtsprechung angemessen durchführen zu können.
Eine vergleichbare Situation bestand im antiken Griechenland, insbesondere
in der hellenischen Periode (300 v.Chr.), als sich griechische Zivilisation und
Kultur als Folge der Eroberungen Alexanders des Großen (400 v.Chr.) in Kleinasien
und Ägypten verbreitete. Griechisch wurde in diesem Gebiet von einer Reihe von Völkern
gesprochen, deren Muttersprache nicht Griechisch war. Es entwickelte sich eine gemeinsame
Sprache, genannt Koiné, eine Lingua Franca, die von dem klassischen
attischen Griechisch der Dichter und Prosaschriftsteller des 5. und 4. Jahrhunderts
v.Chr. abwich. Als Reaktion auf diese Entwicklung entstand eine Bewegung, die das
authentische, klassische Griechisch bewahren und lehren wollte; sie entwickelte
sich gemeinsam mit der Exegese (Auslegung) der Texte der klassischen Autoren.
Auch die Sprachwissenschaft unseres Jahrhunderts ist durch ähnliche Interessen geprägt
(vgl. Newmeyer & Emonds, 1971; Eisenberg & Haberland, 1972). 1934 wurde
in Arkansas, USA, das Summer Institute of Linguistics, kurz SIL, gegründet,
welches in etwa identisch ist mit der Wycliff Bible Translators Inc. Diese
Organisation entstand, weil man die Bedeutung, ie die Linguistik für die Untersuchung
und Übersetzung unerforschter Sprachen hatte, erkannte. Missionare sollten sprachwissenschaftlich
unterwiesen werden, um dementsprechend gerüstet ihre Aufgabe auszuüben.
Wissenschafts- und Erkenntnistheorie
Die Formalobjekte einer Disziplin zu einem bestimmten Zeitpunkt hängen auch von
den wissenschaftstheoretischen und erkenntnistheoretischen Grundpositionen des Forschers
ab.
Beispiel: Empirismus vs. Rationalismus:
Empirismus: Theoriebildung auf der Grundlage (großer) Mengen empirischer
Daten; Theorie wird durch beobachtbare Daten verfiziert; → induktives Vorgehen,
Bezug zum Behaviourismus.
Rationalismus: Theoriebildung auf der Grundlage (weniger) Daten; Überprüfung
und Testen der Theorie durch Falsifikation; → deduktives Vorgehen, Bezug zu
kognitiver Psychologie; Mentalismus.
Abgrenzungsprobleme
Wenn, wie wir gesehen haben, Sprache das Materialobjekt von ganz verschiedenen Wissenschaften
sein kann, stellt sich die Frage, was denn die sprachwissenschaftliche Beschäftigung
mit Sprache von der Art unterscheidet, wie Sprache in den anderen Wissenschaften
behandelt wird. Was rechtfertigt denn die Etablierung einer eigenen Wissenschaft
von der Sprache (vgl. Linke et al. 1991:5f.)?
1. Sprachbetrachtung um der Sprache willen
Es gibt sicher eine Reihe von Fragestellungen, die sowohl in der Linguistik als
auch in anderen Disziplinen intensiv diskutiert werden. Dies trifft beispielsweise
auf die Semantik zu, d.h. die Lehre von der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Die
Klärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke ist ein wichtigen Anliegen in der Philosophie,
der Rechtswissenschaft, der Literaturwissenschaft und der Theologie. Dort ist die
Auseinandersetzung mit Sprache jedoch Mittel zu einem anderen Zweck (z.B. der Textinterpretation
oder Exegese). Der Gegenstand ist eigentlich nicht die Sprache selbst, sondern etwas
anderes. Sprache gerät in den Blick, wo es für die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen
Gegenstand erforderlich ist. Die Linguistik hingegen stellt Sprache selbst in den
Mittelpunkt und untersucht sie um ihrer selbst willen.
2. Vollständigkeit der Beschreibung
Das Ziel anderer Disziplinen ist es nicht, eine systematische Beschreibung der Sprache
oder einzelner sprachlicher Phänomene zu liefern. Dies jedoch ist das erklärte Ziel
der Sprachwissenschaft. Sie erstrebt eine gewisse Vollständigkeit ihrer Beschreibungen.
Ihr Gegenstand ist Sprache in all ihren Erscheinungsformen und Verwendungsweisen
(vgl. das Zitat von Robins auf S. 5). Eine zentrale Aufgabe der Sprachwissenschaft
ist zu bestimmen, was Sprache eigentlich ist und dies in systematischer Weise
in Form von zusammenhängenden Sprachtheorien darzustellen.
3. Sprachwissenschaftliche Perspektive
Es gibt in der Tat einige wissenschaftliche Teildisziplinen außerhalb der Sprachwissenschaft
im engeren Sinne, die sich intensiver mit dem Gegenstand Sprache auseinandersetzen.
Dies kommt in der Namensgebung zum Ausdruck, z.B. Sprachphilosophie, Sprachsoziologie,
Sprachpsychologie, Sprachpathologie etc. Während die Linguistik zunächst versucht
hat, sich von solchen Disziplinen abzugrenzen und ihren Gegenstand auf die Untersuchung
der internen Struktur von Sprache einzuschränken (vgl. das Zitat von Gleason auf
S. 5), mit dem Ergebnis, daß der "eigentliche" Gegenstand der Linguistik
immer kleiner wurde, haben sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend analoge Teildisziplinen
der Linguistik entwickelt, die Sprache unter zusätzlichen Gesichtspunkten betrachten:
Sprache und Gesellschaft, Sprache und Denken, Sprache und Biologie etc. Dabei gibt
es sicher erhebliche Überschneidungen. Die Unterschiede liegen wesentlich in der
Perspektive. Man kann sagen, daß andere Disziplinen wie Sprachphilosophie, Sprachsoziologie
und Sprachpsychologie sich auch noch mit Sprache beschäftigen. Die Linguistik
aber beschäftigt sich mit Sprache, und das auch noch unter Berücksichtigung
besonderer außersprachlicher Gesichtspunkte, was wiederum in der Namensgebung zum
Ausdruck kommt: Soziolinguistik, Psycholinguistik, Patholinguistik (Neurolinguistik),
Biolinguistik etc.
1.3.4 Der Sprachbegriff Ferdinand de Saussures
Abb. 1.9. Der Sprachbegriff bei Saussure
Von den vielen Versuchen, den Gegenstand der Sprachwissenschaft näher zu bestimmen,
sollen in den folgenden Abschnitten zwei näher betrachtet werden, weil sie den Gang
der neueren Sprachwissenschaft ganz wesentlich geprägt haben. Es handelt sich um
die Sprachauffassungen von Ferdinand de Saussure und von Noam Chomsky.
Der Einfluß von de Saussure basiert wesentlich auf dem Cours de linguistique générale
(dt. Grundfragen der Allgemeine Sprachwissenschaft), einem Werk, das 1916
nach seinem Tode nach Vorlesungsniederschriften einiger seiner Schüler veröffentlicht
worden ist. Es ist daher nicht immer klar, ob dieser Text die Ansichten de Saussures
authentisch wiedergibt. Die folgenden Ausführungen (vgl. Abb. 1.9) geben die Interpretation
von Leont'ev (1971: 19ff.) wieder, der sich auf die textkritische Arbeit von
Godel stützt (R. Godel, Les sources manuscrites de Cours de linguistique générale
de F. de Saussure. 1957).
Danach stehen sich im System Saussures Sprache als abstraktes überindividuelles
System von Zeichen (la langue) und Sprachfähigkeit als Funktion
des Individuums (faculté de langage) gegenüber, die durch den Terminus langage
zusammengefaßt werden. Die Sprache (langue) ist der gemeinsame Besitz einer
Sprachgemeinschaft und ist ihrem Wesen nach gesellschaftlich bedingt und vom einzelnen
Individuum unabhängig. Sie ist andererseits das Produkt der individuellen faculté
de langage. Jedes Mitglied einer Sprachgemeinschaft verfügt sozusagen über
eine "Kopie" der Sprache. Der Begriff langage, der langue
und faculté de langage umfaßt, steht als etwas Potentielles dem Sprechen
als individuellem Akt (parole) gegenüber (potentiell vs. aktuell). Das Sprechen
setzt einerseits die gattungsspezifische Sprachfähigkeit und andererseits die Kenntnis
des Sprachsystems (langue) voraus.
Nach de Saussure ist es die Aufgabe der Linguistik im engeren Sinne, die Sprache
als langue in ihrer inneren Struktur zu untersuchen.
Diese Konzeption wurde im Rahmen des linguistischen Strukturalismus fruchtbar, und
ist vor allem durch den dänischen Sprachforscher Louis Hjelmslev (1899–1965)
konsequent zu Ende gedacht worden.
1.3.5 Die Sprachauffassung von Noam Chomsky
Die Entwicklung der modernen Sprachwissenschaft wurde seit Ende der fünziger Jahre
bis heute ganz entscheidend durch die Arbeiten von Noam Chomsky, dem Begründer der
sog. generativen Transformationsgrammatik, geprägt. In seinem 1965 erschienenen
Buch Aspects of the Theory of Syntax traf er eine dem Gegensatz von langue
und parole analoge Unterscheidung zwischen competence und performance.
Diese Termini wurden als Kompetenz und Peformanz ins Deutsche übernommen. Teilweise
als Antwort auf Kritik am Kompetenzbegriff wird neuerdings zusätzlich zwischen grammatischer
und pragmatischer Kompetenz unterschieden.
Kompetenz und Performanz
Mit dem Terminus Kompetenz bezeichnet Chomsky ein theoretisches Konstrukt, das seinerseits
auf den Konstrukten eines idealisierten Sprechers/Hörers und einer homogenen Sprachgemeinschaft
basiert.
Definition 1.3. Theoretisches Konstrukt
Ein theoretisches Konstrukt ist ein konstruierter, theoretischer oder theoriegebundener
Begriff, der nur indirekte empirische Bezüge hat. Systeme von Konstrukten ergeben
Theorien im Sinne begrifflicher Netze über einem Gegenstandsbereich. Linguistische
Konstrukte sind Struktur, System, Phonem, Kompetenz, usw.
An allgemein bekanntes Beispiel für ein Konstrukt in diesem Sinne ist der Begriff
der Intelligenz.
Definition 1.4. idealer Sprecher/Hörer
Der Gegenstand einer linguistischen Theorie ist in erster Linie ein idealer Sprecher/Hörer,
der in einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft lebt, seine Sprache ausgezeichnet
beherrscht und bei der Anwendung seiner Sprachkenntnisse in der aktuellen Rede von
grammatisch irrelevanten Bedingungen wie begrenztem Gedächtnis, Zerstreutheit und
Verwirrung, Verschiebung in der Aufmerksamkeit und im Interesse, (zufälligen oder
typischen) Fehlern nicht beeinträchtigt wird. (Chomsky 1965:13)
Eine Sprachgemeinschaft ist homogen, wenn sie frei von dialektalen (regionalspezifischen)
oder soziolektalen (gruppenspezifischen) Sprachvarianten ist. Die Aufgabe der Sprachtheorie
ist die Erklärung der Kompetenz eines idealen Sprechers/Hörers einer solchen Sprachgemeinschaft.
Definition 1.5. sprachliche Kompetenz
Die Kompetenz ist das im Spracherwerbsprozeß erworbene (unbewußte) Wissen, über
das ein idealer Sprecher/Hörer einer homogenen Sprachgemeinschaft verfügt. Es besteht
aus einem System von Regeln und Prinzipien, die mental repräsentiert sind, und die
es ihm ermöglichen, auf der Grundlage eines endlichen Inventars von Elementen (Lauten,
Wörtern) eine prinzipiell unendliche Zahl von Äußerungen in einer konkreten Kommunikationssituation
hervorzubringen und zu verstehen und Urteile über die Grammatikalität, Mehrdeutigkeit
und Bedeutungsgleichheit von Sätzen abzugeben.
Die Art und Weise, wie wir von diesem Wissen in konkreten Kommunikationssituationen
— bedingt durch Faktoren wie Gedächtnis, Konzentration, Müdigkeit etc.
— mehr oder weniger einwandfreien Gebrauch machen, wollen wir als sprachliche
Performanz bezeichnen.
Definition 1.6. sprachliche Performanz
Performanz nennt man den Gebrauch, den ein Sprecher/Hörer in einer konkreten Kommunikationssitiation
von seiner Kompetenz macht, möglicherweise beeinträchtigt durch Faktoren wie Begrenztheit
des Gedächtnisses, Konzentrationsmängel, Müdigkeit, Alkohol etc.
Im folgenden soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden, wie sich die sprachliche
Kompetenz eines Muttersprachlers manifestiert. Sie äußert sich u. a. in folgendem.
Der kompetente Sprecher kann
- über die Identität zweier Äußerungen entscheiden;
- in gewissen Grenzen Ausdrücke korrekt segmentieren, d. h. z. B. eine Folge
von Lauten korrekt in einzelne Ausdrücke (z. B. Wörter) zerlegen;
- entscheiden, ob ein Ausdruck grammatisch ist oder nicht;
- die Bedeutungsgleichheit von Ausdrücken sowie die Ambiguität eines Ausdrucks feststellen,
z. B. die Ambiguitäten in den Beispielen
(1.2.) Der Mann überrascht den Liebhaber im Schlafanzug.
(1.3.) Der Vater läßt die Kinder für sich sorgen.
- Grade der sprachlichen Abweichung unterscheiden, wie sie in zunehmendem
Maße in den folgenden Beispielen vorliegt:
(1.4.)
(a) Klaus kommt aus Fallingbostel.
(b) Klaus kommt aus Liebe.
(c) Klaus kommt aus Liebe und aus Fallingbostel.
(d) Von mir wird ein Film gesehen.
(e) Er hat aus Berlin gestammt.
(f) Ich habe gestürzt.
(g) Er sagte, daß du hast in Italien gelebt.
(h) Mancher in Deutschland wollen gehen in Italien.
(i) Huming la burbu loris singen vorn.
- Typen sprachlicher Abweichung unterscheiden, wie etwa in den Beispielen
(1.4.)(f) und (1.4.)(g);
- Unterschiede in den strukturellen Beziehungen innerhalb von Sätzen erkennen, z.
B. die Unterschiede zwischen
(1.5.) Lehrer sind schwer zu überzeugen.
(1.6.) Schüler sind bereit zu arbeiten.
Ursprünglich hat Chomsky die Kompetenz als Fähigkeit, Sätze zu bilden und zu verstehen,
der Performanz als dem Gebrauch, der von dieser Fähigkeit unter dem Einfluß von
möglicherweise störenden Faktoren gemacht wird, unterschieden.
Nun gibt es aber einen anderen Aspekt der Sprachverwendung, der nicht unter der
Performanz zu subsumieren ist, insofern er regelhaft ist und somit zur sprachlichen
Kompetenz in einem weiteren Sinne gehört. Es handelt sich hier um eine Kompetenz,
die sich nicht auf die Beherrschung der sprachlichen Konstruktionsmittel
bezieht, sondern auf die kompetente Verwendungsweise korrekt gebildeter Sätze
in den angemessenen Kontexten. Diese Art von Kompetenz betrifft also Fähigkeiten
wie sie sich etwa darin äußern
8. daß der kompetente Sprecher die Äußerung
(1.7.) Ich verspreche dir, daß ich dir das Buch morgen zurückbringe.
unter entsprechenden Umständen als ein Versprechen versteht und zu einem Versprechen
verwenden kann;
9. daß er den Unterschied beurteilen kann zwischen
(1.8.) Kannst du mir helfen, den Schrank hochzutragen?
(1.9.) Kannst du mir wenigstens helfen, den Schrank hochzutragen?
10. daß er die Äußerung bei Tisch
(1.10.) Kannst du mir das Salz reichen?
nicht nur mit »ja« beantwortet und sonst nichts tut;
11. daß er die Äußerung
(1.11.) Klaus ist ein Lügner, aber ich glaube nicht, daß er ein Lügner ist.
als merkwürdig auffaßt;
12. daß er die Äußerung
(1.12.) Klaus weiß, daß Peter Maria liebt, aber Peter liebt Maria nicht.
als in irgendeinem Sinne abweichend empfindet;
13. daß er einen Akzeptabilitätsunterschied zwischen den folgenden Beispielen feststellt;
(1.13.) Klaus und Maria haben geheiratet. Er ist blond und sie ist fast schwarz.
(1.14.) Ich habe mir heute eine Schreibmaschine und einen Computer gekauft. Sie
ist rot und er ist fast schwarz.
14. daß er den Logbucheintrag des Steuermanns in folgender Anekdote als eine Diffamierung
des Kapitäns versteht: Der Kapitän ist erbost über die Trunkenheit des Steuermanns
und trägt ins Logbuch ein:
(1.15.) »8. 1. 86: Der Steuermann ist heute betrunken.«
Als der wieder nüchtern gewordene Steuermann diesen Eintrag liest, ärgert er sich,
und schreibt darunter:
(1.16.) »8. 1. 86: Der Kapitän ist heute nicht betrunken.«
Chomskys Kompetenzbegriff ist häufig kritisiert worden, weil er diese regelhaften
Aspekte der Sprachverwendung nicht ausreichend berücksichtige. So wurde ihm der
Begriff der kommunikativen Kompetenz (Habermas 1971; Hymes 1972) gegenübergestellt.
Chomsky selbst gesteht inzwischen zu, daß eine Theorie des sprachlichen Wissens
durch eine Theorie der Sprachverwendung zu ergänzen ist. Er unterscheidet entsprechend
zwischen einer grammatischen und einer pragmatischen Kompetenz. Erstere entspricht
dem, was wir oben als sprachliche Kompetenz definiert haben.
Definition 1.7. pragmatische Kompetenz
Pragmatische Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit, auf der Grundlage einer grammatischen
Kompetenz korrekt gebildete Sätze situationsangemessen und zweckentsprechend zu
verwenden.
Um den Unterschied noch einmal an einem Beispiel zu illustrieren: Während wir aufgrund
pragmatischer Kompetenz verstehen, auf wen sich – bei entsprechendem Kontext
– sie im folgenden Beispiel bezieht
(1.17.) Sie glaubt, daß Maria schwanger ist.
verstehen wir aufgrund grammatischer Kompetenz, daß diese durch sie bezeichnete
Person eine andere als die schwangere Maria ist.
Die Aufgabe des Linguisten ist nach Chomsky primär die Rekonstruktion der die Kompetenz
konstituierenden Regelbeherrschung von Muttersprachlern.
E-Sprache und I-Sprache
In neueren Arbeiten stellt Chomsky (Chomsky, 1987:ch. 2) zwei Sprachbegriffe einander
gegenüber, die in der modernen Linguistik eine wesentliche Rolle gespielt haben
und immer noch spielen: Externalisierte Sprache (E-Sprache; externalized
(E-)language) und Internalisierte Sprache (I-Sprache; internalized
(I-)language). Die E-Sprachen-Linguistik, wie sie hauptsächlich aus der
Tradition des amerikanischen "taxonomischen" Strukturalismus bekannt ist,
hat zum Ziel, mehr oder weniger umfangreiche Sprachproben zu sammeln (sog. Corpora)
und dann deren Eigenschaften zu beschreiben. Eine E-Sprache ist eine Sammlung von
Sätzen, aufgefaßt als Objekte, die unabhängig von mentalen Eigenschaften von Sprechern
existieren. E-Sprachen-Forschung konstruiert eine Grammatik, welche die in einer
solchen Sprachprobe enthaltenen Regularitäten beschreiben soll. Eine Grammatik ist
etwas gegenüber der Sprache Sekundäres. Sie ist eine Sammlung von deskriptiven Aussagen
über die E-Sprache. Die Aufgabe des Linguisten ist es, in die Menge der externen
Fakten, welche die Sprache ausmachen, Ordnung zu bringen. Die resultierende Grammatik
wird auf der Grundlage der Eigenschaften solcher Daten als Menge von Strukturmustern
(engl. patterns) beschrieben.
Die I-Sprachen-Linguistik hingegen beschäftigt sich mit dem, was ein Sprecher über
Sprache weiß, und woher dieses Wissen kommt. Sie betrachtet Sprache als eine interne
Eigenschaft des menschlichen Geistes und nicht als etwas Externes. Die Grammatik
besteht aus Prinzipien und Parametern.
Chomsky behauptet, daß in der jüngsten Geschichte der Linguistik eine Verschiebung
in der Sprachbetrachtung von der E-Sprache zur I-Sprache stattgefunden hat, wobei
letztere als ein System aufgefaßt wird, das im Geist (im Gehirn) eines einzelnen
Individuums repräsentiert ist (Chomsky, 1988: 36). Das Ziel der I-Sprachen-Forschung
ist es, diesen mentalen Zustand zu repräsentieren. Eine Grammatik beschreibt das
(intuitive) Sprachwissen, und nicht die Sätze, die auf dessen Grundlage hervorgebracht
worden sind. Der Erfolg dieses Ansatzes mißt sich darin, wie gut die Grammatik das
Sprachwissen als Eigenschaften des menschlichen Geistes erfaßt und erklärt. Die
theoretischen Ansätze Chomskys gehören in die Tradition der I-Sprachen-Forschung.
Zum E-Sprachen-Ansatz gehören nicht nur Theorien, welche die physische Manifestation
der Sprache in den Vordergrund stellen, sondern auch solche, die Sprache als soziales
Phänomen behandeln, als eine Menge (oder ein System) von Handlungen oder Verhaltensweisen.
Die Erforschung der E-Sprache setzt einen Satz mit anderen externen Phänomenen in
Beziehung: mit der (E-)Sprache, die seiner Äußerung vorangegangen ist, mit der Situation,
die zum Zeitpunkt der Äußerung vorlag, und mit den sozialen Beziehungen zwischen
dem Sprecher und dem Hörer. Sie konzentriert sich mehr auf das soziale Verhalten
zwischen den Menschen als auf deren innere psychologische Welt. Ein Großteil der
Forschung in der Soziolinguistik oder der Gesprächsanalyse fällt in den Rahmen der
E-Sprachen-Forschung, insofern sie sich mehr auf soziale als auf geistige Phänomene
bezieht.
Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Forschungsansätzen währt schon seit
einiger Zeit und wurde mit ziemlicher Schärfe geführt. Sie hat auch die anderen
Disziplinen beeinflußt, die mit der Linguistik in enger Beziehung stehen. Das Lager
Spracherwerbsforscher teilt sich in jene auf, die Interaktion und kommunikative
Funktion in den Vordergrund stellen und jene, die nach Regeln und Prinzipien forschen.
Sprachlehrer können in solche eingeteilt werden, die E-Sprachen-Methoden propagieren
und Kommunikation und Verhalten betonen und solche, die I-Sprachen-Methoden verfechten
und Sprachwissen für wichtiger halten, wobei erstere zur Zeit Oberwasser haben.
Computer-Linguisten können ebenfalls grob in zwei Lager eingeteilt werden: diejenigen,
die riesige Mengen von Sprachdaten analysieren (Corpuslinguisten) und diejenigen,
die Regeln schreiben.
E-Sprache vs
|
I-Sprache
|
Sprachproben (Corpora) aus tatsächlich geäußerten Ausdrücken
|
Einzelne für den Zweck konstruierte Sätze
|
Beschreibt Merkmale der Probe mit Hilfe von aus den Daten gewonnen 'Strukturmustern',
etc.
|
Beschreibt mentale Aspekte auf der Basis von Prinzipien
|
Soziale Konvention
|
Mentale Realität
|
'Verhalten'
|
'Wissen'
|
Die externe Situation
|
Die interne Repräsentation
|
Pragmatische oder kommunikative Kompetenz
|
Grammatische Kompetenz
|
Abb. 1.10
Ein E-Linguist sammelt Proben von tatsächlich Gesprochenem und tatsächlich beobachtetem
Verhalten. Seine Evidenz besteht aus konkreter physischer Manifestation. Ein I-Linguist
‘erfindet’ mögliche und unmögliche Sätze; seine Evidenz besteht in den
Urteilen von Sprechern über die Grammatikalität dieser Sätze. Der E-Linguist verachtet
den I-Linguisten wegen seiner (angeblichen) Mißachtung 'realer' Fakten;
der I-Linguist macht sich über den E-Linguisten lustig, weil er über Trivialitäten
forscht (Erbsenzähler).
Die obige Tabelle faßt die Unterschiede zwischen E-Sprache und I-Sprache zusammen.