Kapitel 3: Semiotik
3.0 Einleitung
Wir haben gesehen, daß das "Materialobjekt" Sprache je nach Erkenntnisinteresse
und sonstigen Bedingungsfaktoren unter verschiedenen Blickpunkten betrachtet werden
kann, wobei sich jeweils verschiedene "Formalobjekte" konstituieren. Im
weiteren Verlauf dieses Kurses werden wir Sprache vor allem als ein System von Zeichen
kennenlernen. Im folgenden geht es daher zunächst um die Klärung des Begriffes Zeichen.
Wie viele andere sprachwissenschaftliche Termini existiert Zeichen auch als
Wort der Alltagssprache, d.h. wir verfügen zunächst über einen vorwissenschaftlichen
Zeichenbegriff. Betrachten wir uns dazu den Eintrag zum Wort Zeichen im großen
Dudenwörterbuch (Duden 1981, s.v. Zeichen):
Zeichen ['tsajçn], das: -s, - [mhd. zeichen, ahd. zeihhan]:
1. a) etw. Sichtbares, Hörbares (bes. eine Geste Gebärde ein Laut o. ä.),
das als Hinweis dient, etw. deutlich macht mit dem jmd. auf etw. aufmerksam gemacht,
zu etw. veranlaßt o. ä. wird: ein leises heimliches, unmißverständliches
Z.; das Z. zum Aufbruch, Anfang, Angriff ertönte; Jmdm. ein Z. (mit der Taschenlampe)
geben; sie machte ein Z., er solle sich unbemerkt entfernen; sich durch Z. miteinander
verständigen; zum Z. (um erkennen zu lassen), daß er ihn verstanden habe,
nickte er leicht mit dem Kopf; zum Z./als Z. (zur Besiegelung, Verdeutlichung)
ihrer Versöhnung umarmten sie sich; b) der Kenntlichmachung von etw., dem
Hinweis auf etw. dienende Kennzeichnung, Markierung od. als solche dienender Gegenstand:
ein kreisförmiges, dreieckiges, rätselhaftes Z.; mach dir lieber ein Z. auf die
betreffende Seite, lege dir ein Z., einen Zettel als Z. in das Buch; er machte,
schnitt, kerbte ein Z. in den Baum sie brannten allen Rindern das Z. des Besitzers
ein; setzen Sie bitte Ihr Z. (ihre Paraphe) unter jedes gelesene Schriftstück;
*ein Z./Z. setzen ( Signal l); seines/ihres
-s (veraltend, noch scherzh.; von Beruf: nach den alten Hausmarken od. Zunftzeichen):
er war seines -s Schneider/war Schneider seines -s; c) (für etw. ) festgelegte, mit
einer bestimmten Bedeutung verknüpfte, eine ganz bestimmte Information vermittelnde
graphische Einheit Symbol (2): gedruckte, mathematische, chemische Z.; das
magische Z. des Drudenfußes; in den Stein war das Z. des Kreuzes gemeißelt; du mußt
die Z. (Satzzeichen) richtig setzen, du hast bei der letzten Klavierübung
wieder die Z. (Versetzungszeichen, Vortragszeichen) nicht beachtet; auf diesen
Schildern sehen Sie die wichtigsten Z. (Verkehrszeichen): man bezeichnet
die Sprache als ein System von Z. (Sprachw.; von sprachlichen Einheiten aus Lautung
u. Bedeutung). 2. etw. (Sichtbares Spürbares, bes. eine Verhaltensweise,
Erscheinung, ein Geschehen, Vorgang, Ereignis o.ä.), was jmdm. etw. [an]zeigt; Anzeichen,
Symptom, Vorzeichen: ein sicheres, eindeutiges, untrügliches, klares,
deutliches, bedenkliches, schlechtes, böses. alarmierendes Z.: das ist kein gutes
Z.; die ersten Z. einer Krankheit; das ist ein Z. von Übermüdung; das ist ein Z.
dafür, daß er ein schlechtes Gewissen hat; die Z. des Verfalls sind nicht zu übersehen,
wenn nicht alle Z. trügen wird es besser; das ist ja wie ein Z. des Himmels; sie
nahm dies als ein günstiges Z.; das Baby gab Z. des Unmuts, des Ärgers. der Ungeduld
von sich (geh.. ließ Unmut Ärger, Ungeduld erkennen); sie beteten
und warteten auf ein Z.; er hielt es für ein Z. von Schwäche; R es geschehen noch
Z. und Wunder! (Ausruf des Erstaunens. der Überraschung, bes. über ein nicht mehr
erwartetes. für möglich gehaltenes Geschehen vgl. 2. Mos. 7, 3); *die Z. der Zeit
(die augenblickliche, bestimmte zukünftige Entwicklungen betreffende Lage, Situation;
nach Matth. 16, 3): er hat damals die Z. der Zeit erkannt richtig zu deuten gewußt.
3. Tierkreiszeichen, Sternzeichen: aufsteigende, absteigende Z.; die
Z. (Sternbilder) des Tierkreises; die Sonne steht im Z. des Widders er ist
im Z. des Löwen geboren, *im/unter dem Z. von etw. stehen, geschehen, leben
o. a. (geh.; von etw. geprägt entscheidend beeinflußt werden): die ganze
Stadt lebte. stand im Zeichen der Olympischen Spiele; unter einem guten/glücklichen/[un]günstigen
o. ä. Z. stehen (geh. ↑2Stern 1 b).
Ersichtlich verwenden wir das Wort Zeichen in verschiedenen Kontexten in
einer Vielzahl verschiedener Bedeutungen. Bei einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise
ist es jedoch erforderlich, die einzelnen Bedeutungen voneinander abzugrenzen, d.h.
den Begriff präzise zu definieren.
Da Zeichen nicht nur als lautsprachliche oder geschriebene Zeichen vorkommen und
somit nicht ausschließlich zum Gegenstand der Sprachwissenschaft gehören, hat sich
eine allgemeine Zeichentheorie entwickelt, eine Wissenschaft von den allgemeinen
Eigenschaften von Zeichensystemen. Nach dem griechischen Wort σημειον [se:meion]
‘Zeichen, Kennzeichen, Signal’ (Adj. σημειοτικος [se:meiotikos]) hat
diese den Namen Semiotik erhalten.
Definition 3.1. Semiotik
Semiotik ist die allgemeine Theorie der Zeichensysteme.
Für die weitere Klärung des Zeichenbegriffes gehen wir aus vom Begriff der Kommunikation.
3.1 Kommunikation
Eine der wichtigsten Aufgaben der menschlichen Sprache als Zeichensystem ist ihre
Verwendung als Kommunikationsmittel. Das ist so offensichtlich, daß viele Untersuchungen
der Sprache diese Sprachfunktion als einzige zum Gegenstand haben. Die Begriffe
Kommunikation und Information bedingen sich gegenseitig. Man kann daher Information
unter Bezug auf Kommunikation definieren, oder umgekehrt. In der folgenden Definition
von Kommunikation wird der Begriff Information als Grundbegriff vorausgesetzt:
Definition 3.2. Kommunikation
Als Kommunikation bezeichnen wir die intentionale Übertragung von Information mittels
eines bestehenden Zeichensystems.
Menschen benutzen zur Informationsübermittlung hauptsächlich die Zeichensysteme
natürlicher Sprachen. Da es darüber hinaus jedoch eine Vielzahl anderer Systeme
gibt, ist es sinnvoll, ein allgemeines Modell der Kommunikation zu entwickeln. Ein
solches Modell wurde z.B. von Shannon & Weaver (1949) entworfen.
Sehr vereinfacht können wir in einem Kommunikationsakt zunächst zwei Komponenten
unterscheiden, einen Sender, von dem die Information ausgeht, und einen Empfänger,
der sie interpretiert. Damit erhalten wir das folgende sehr einfache Kommunikationsmodell:
Abb. 3.1. Einfaches Kommunikationsmodell
Definition 3.3. Sender
Der Sender ist das Teilsystem eines Kommunikationssystems, das Information von einer
Informationsquelle übernimmt und sie an einen Übertragungskanal weitergibt.
Dies ist sehr allgemein zu verstehen. Unter den Begriff des Senders fallen z.B.
Menschen, die anderen schriftliche oder mündliche Mitteilungen zukommen lassen,
aber auch Tiere, die ihren Partner während der Paarungszeit durch Geruch oder Farbe
anlocken, usw.
Definition 3.4. Empfänger
Der Empfänger ist das Teilsystem eines Kommunikationssystems, das die von einem
Sender übermittelte Information aufnimmt.
Empfänger von Informationen können wiederum Menschen, Tiere, technische Systeme
usw. sein. Damit Sender und Empfänger miteinander kommunizieren können, müssen sie
durch ein materielles Medium miteinander verbunden sein. Diese Medium wird Kanal
genannt.
Definition 3.5. Kanal
Der Kanal ist das materielle Medium, das Sender und Emfpänger eines Kommunikationssystems
während des Kommunikationsprozesses verbindet und über das Signale vermittelt werden.
Alles, was Menschen sensorisch wahrnehmen können, hat einen entsprechenden Kanal;
so gibt es akustische, optische, taktile (den Tastsinn betreffende) usw. Kanäle.
Damit erweitert sich unser Kommunikationsmodell wie folgt:
Abb. 3.2. Kommunikationsmodell mit Kanal
Die Bezeichnungen Sender und Empfänger sind im Deutschen nicht eindeutig
und können noch weiter differenziert werden: Beim Sender unterscheiden wir zwischen
Sender als Informationsquelle und Sender als Sendevorrichtung (engl. transmitter),
beim Empfänger zwischen Empfänger als Empfangsvorrichtung (engl. receiver)
und Empfänger als Bestimmungsziel (engl. destination):
Abb. 3.3. Ein Kommunikationsmodell
(nach Shannon/Weaver 1949)
Die Informationsquelle wählt aus einer Menge von Alternativen die gewünschte Nachricht
(Information, engl. message) aus. Die ausgewählte Nachricht kann aus geschriebenen
oder gesprochenen Texten oder aus Bildern, aus Musik usw. bestehen. Die "Sendevorrichtung"
(engl. transmitter) enkodiert diese Nachricht mithilfe eines bestehenden
Kodes zu einem Signal. Dieses Signal wird über einen bestimmten Kommunikationskanal
zur Empfangsvorrichtung (engl. receiver) gesendet.
Im Falle gesprochener Sprache ist das Gehirn die Informationsquelle, der Sprechmechanismus
die Sendevorrichtung, welche die Nachricht in Signale in Form von Schallwellen umwandelt,
die über die Luft als Kanal an den Empfänger übermittelt werden.
Die Empfangsvorrichtung (beim Menschen das Wahrnehmungssystem) dekodiert das Signal
zu einer Nachricht und leitet sie zum Empfänger (das Gehirn) weiter. Was tatsächlich
übermittelt wird, ist nicht die Information selbst, sondern das Signal bzw. eine
Menge von Signalen, in denen die Information kodiert ist. Um diese Information rekonstruieren
zu können, muß der Empfänger über einen ähnlichen oder, im Idealfall, denselben
Kode wie der Sender verfügen.
Abb. 3.4. Kommunikationsmodell mit gemeinsamem Kode
Definition 3.6. Kode
Ein Kode (engl. code) ist eine Vorschrift für die Zuordnung der einzelnen
Zeichen zi eines Zeichenvorrats Z1, der zur
Darstellung bestimmter Informationen dient, zu den Zeichen zj
eines Zeichenvorrats Z2, mit dem dieselben Informationen dargestellt
werden können.
Ein Beispiel für einen Kode, der zu Kommunikationszwecken erstellt worden ist, ist
das Morsealphabet. In diesem Kode werden die Buchstaben des lateinischen Alphabet
durch Kombinationen von Punkten und Strichen wiedergegeben. Um die Kodes einzelner
Buchstaben voneinander trennen und unterscheiden zu können, spielen auch die Pausen
eine wichtige Rolle.
a
|
· –
|
n
|
– ·
|
å
|
· – – · –
|
ä
|
· – · –
|
o
|
– – –
|
é
|
· · – · ·
|
b
|
– · · ·
|
ö
|
– – – ·
|
ñ
|
– – · – –
|
c
|
– · – ·
|
p
|
· – – ·
|
|
|
ch
|
– – – –
|
q
|
– – · –
|
Ziffern:
|
d
|
– · ·
|
r
|
· – ·
|
1
|
· – – – –
|
e
|
·
|
s
|
· · ·
|
2
|
· · – – –
|
f
|
· · – ·
|
t
|
–
|
3
|
· · · – –
|
g
|
– – ·
|
u
|
· · –
|
4
|
· · · · –
|
h
|
· · · ·
|
ü
|
· · – –
|
5
|
· · · · ·
|
i
|
· ·
|
v
|
· · · –
|
6
|
– · · · ·
|
j
|
· – – –
|
w
|
· – –
|
7
|
– – · · ·
|
k
|
– · –
|
x
|
– · · –
|
8
|
– – – · ·
|
l
|
· – · ·
|
y
|
– · – –
|
9
|
– – – – ·
|
m
|
– –
|
z
|
– – · ·
|
0
|
– – – – –
|
Abb. 3.5. Das Morsealphabet
Der Sender ist demnach ein Vorrichtung, die als Input eine Nachricht und einen Kode
erhält und als Output ein Signal liefert; der Empfänger (receiver) erhält
als Input ein Signal und einen Kode und liefert als Output eine Nachricht.
Abb. 3.6. Enkodierung
Abb. 3.7. Dekodierung
Sollte das englische Wort language, also die Buchstabenfolge <l a n g
u a g e>, als Nachricht übermittelt werden, müßte es folgendermaßen enkodiert
werden:
· – · · · – – · – –
· · · – · – – – · ·,
also als Sequenz von Punkten und Strichen mit dazwischenliegenden Leerstellen.
Das gesendete Signal kann sich vom empfangenen Signal aufgrund von Verzerrungen,
die durch Störungen im Kanal entstanden sind, unterscheiden. In der Informationstheorie
bezeichnet man solche Störungen, z.B. starker Lärm, als Rauschen (engl. noise).
Definition 3.7. Rauschen
Als Rauschen bezeichnet man alle Phänomene, die die Übertragung bzw. Aufnahme von
Information stören können.
In einem weiteren Sinne auf natürliche Sprache angewandt gehört zum Rauschen bei
der gesprochenen Sprache jede Störungs- oder Fehlerquelle, welche die Rede beeinträchtigt,
z.B. akustische Umweltbedingungen, Zerstreutheit, Gedächtnislücken, evtl. Erkältung
des Sprechers, bei der geschriebenen Sprache situationsbedingte Entstellungen der
Handschrift, Schreibfehler usw.
Um beim obigen Beispiel zu bleiben: wäre das empfangene Signal z.B. die folgende
Sequenz:
· – · · · – – · – –
· · – – · – – – · ·,
würde der Empfänger es anhand des Morse Kodes als Buchstabensequenz <l a n g
w a g e> dekodieren. Diese Sequenz ist kein englisches Wort; offensichtlich ist
bei der Übermittlung des Signals ein Fehler passiert. Das Morsezeichen für <u>
ist · · –, das für <w> hingegen · – –.
Es ist also an einer Stelle ein Punkt als Strich wahrgenommen worden. Mithilfe des
Wissens über die englische Sprache ist es trotzdem ohne weiteres möglich, die ursprüngliche
Information zu rekonstruieren.
Wir können nunmehr Signal wie folgt definieren:
Definition 3.8. Signal
Ein Signal ist das, was über einen Kommunikationskanal übertragen wird, und vom
Empfänger als die Enkodierung einer Nachricht (Information) interpretiert werden
kann.
Unter einem kommunikationstheoretischen Gesichtspunkt können wir Signale als kommunukativ
oder informativ unterscheiden:
Definition 3.9. kommunikativ
Ein Signal ist kommunikativ, wenn der Sender damit beabsichtigt, den Empfänger auf
etwas aufmerksam zu machen, dessen dieser vorher nicht gewahr gewesen ist.
Definition 3.10. informativ
Ein Signal ist informativ, wenn es den Empfänger auf etwas aufmerksam macht, dessen
er vorher nicht gewahr war.
Ob ein Signal kommunikativ ist hängt also von den Intentionen des Senders ab, während
die Informativität vom Wissensstand des Empfängers abhängt. Ein Signal kann also
kommunikativ sein, ohne dabei informativ zu sein, und umgekehrt.
Bei natürlichen Sprachen ist es nicht selbstverständlich, daß Sender und Empfänger
über den gleichen Kode verfügen. Auch innerhalb einer Sprachgemeinschaft haben indivuelle
Sprecher Kodes, die sich leicht voneinander unterscheiden, insbesondere, wenn sie
unterschiedliche Dialekte oder Soziolekte sprechen. Als Folge davon ist es möglich,
daß sich die gesendete Information von der empfangenenen Information unterscheidet,
obwohl gesendetes und empfangenes Signal gleich sind.
Abb. 3.8. Kommunikationsmodell mit sich überlappenden Kodes
3.2 Der Zeichenbegriff
Hinsichtlich bestimmter gemeinsamer Merkmale können verschiedene Signale als "gleich"
angesehen und in einer Klasse zusammengefaßt werden. Zur Klärung dieser Feststellung
ziehen wir wieder den Morse-Kode heran. Die Elemente, aus denen das Morsealphabet
besteht, sind Punkte und Striche, die miteinander kombiniert werden. Näher betrachtet,
gibt es bei den tatsächlich übermittelten Morse-Signalen allerdings Abweichungen
in Bezug auf Länge (bei optischer Übermittlung) oder Dauer (bei akustischer Übermittlung)
der Punkte bzw. Striche. Das liegt daran, daß Punkt und Strich abstrakte Konzepte
sind, und daß es für sie keine absolute Längenmaßeinheit gibt. Bei der Interpretation
eines Morse-Signals ist vielmehr relevant, ob ein Element im Vergleich zu einem
anderen im gleichen Kontext das Merkmal relativ kurz (Punkt) oder aber das Merkmal
relativ lang (Strich) hat. Dazu ein Beispiel:
Signal S1: · –
Signal S2: – —
Obwohl die tatsächliche Länge der Elemente in S1 unterschiedlich
ist von der tatsächlichen Länge der Elemente in S2, würden beide
Signale als Realisierung der Sequenz "relativ kurz" + "relativ lang",
also als Punkt Strich und somit als Kodierung des Buchstaben <a> interpretiert.
Wir nennen S1 und S2 äquivalente Exemplare desselben
Typs.
Im Umgang mit sprachlichen Objekten muß zwischen zwei Arten von "Gleichheit"
differenziert werden. Im ersten Fall geht es um wirkliche Identität, es handelt
sich um ein- und dasselbe individuelle Objekt. Im zweiten Fall basiert die "Gleichheit"
auf der Identität bestimmter Eigenschaften oder Merkmale, es handelt sich dabei
um denselben Typ. Diese Unterscheidung kann in der deutschen Sprache durch die Verwendung
von der-, die-, dasselbe im ersten Fall und der-, die-, dasgleiche
im zweiten Fall explizit gemacht werden; zur Bezeichnung dieser Unterscheidung dienen
im Englischen die Begriffe type und token. Wir wollen dafür Typ (engl.
type) und Exemplar (engl. token) sagen:
Definition 3.11. Exemplar
Exemplare (engl. token) sind einmalige physische Objekte (engl. unique physical
entities) mit bestimmter Lokalisierung in Raum und Zeit. Sie werden als
Exemplare desselben Typs identifiziert aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit anderen Individuen
und kraft ihrer Übereinstimmung mit dem Typ, den sie vertreten.
In unserem Beispiel wären die Signale S1 und S2
also verschiedene Exemplare desselben Signaltyps.
Definition 3.12. Typ
Ein Typ ist eine Klasse äquivalenter Exemplare.
Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke wird im allgemeinen durch den Begriff der "Bezeichnung"
oder Signifikation (engl. signification, cf. Lyons 1977: 95ff.) charakterisiert,
d.h. man geht davon aus, daß Wörter und andere sprachliche Ausdrücke Zeichen sind,
die andere Objekte in einem bestimmten Sinne bezeichnen oder ‘für sie’
stehen.
Die auffälligste und sichtbarste Eigenschaft von Zeichen jeder Art ist, dass sie
einem Zeichenbenutzer etwas präsent machen können, ohne selbst dieses etwas zu sein.
Sie erhalten dadurch einen ausserordentlichen praktischen Wert — sie machen
im höchstentwickelten Zeichensystem, der menschlichen Sprache, die ganze Welt verfügbar,
ohne dass die Dinge der Welt physisch anwesend sein müssten, auch ohne dass sie
handelnd bearbeitet oder verändert werden müssten. Allerdings ist diese Art der
Verfügbarkeit eine spezielle: Das Verhältnis von Zeichen zur Welt ist nicht so,
dass die Dinge allein durch Sprache, durch ihre zeichenhafte Erfassung bearbeitet
oder verändert werden könnten.
(Linke et al. 1991: 18)
Wir definieren Zeichen zunächst unter Bezug auf den Begriff Signal als eine Klasse
äquivalenter Signale.
Definition 3.13. Zeichen
Ein Zeichen ist eine Klasse äquivalenter Signale, die für andere Dinge stehen oder
sie Bezeichnen.
Was das für Dinge sind, ist kontrovers, es bietet sich an, dafür einen neutralen,
technischen Begriff einzuführen:
Definition 3.14. Signifikat
Das Signifikat (lat. significatum, das Bezeichnete) ist das, wofür das Zeichen
steht.
Die wesentlichen Aspekte des Zeichenprozesses wurden bereits im Altertum von den
Griechen herausgearbeitet, insbesondere von den Stoikern. Über deren Zeichenbegriff
berichtet der griechische Arzt und Philosoph Sextus Empiricus (um 200–250
n.Chr.) wie folgt:
Es gab bei ihnen noch eine andere Meinungsverschiedenheit, bei der die einen die
Ansicht vertraten, das Wahre und das Falsche liege in dem Bezeichneten, andere dagegen,
es liege im Wort, und wieder andere, es liege im Denkprozeß. Die erste Auffassung
vertraten die Stoiker, die sagten, daß dreierlei sich miteinander verbinde, das
Bezeichnete (το σημαινομενον) und das Bezeichnende
(το σημαινον) und das Objekt (το τυγχάνον), und zwar sei das Bezeichnende das
Lautgebilde (ἡ ψωνή), wie z.B. Dion, das Bezeichnete sei die durch das Lautgebilde
angezeigte (δηλουμενον) Sache selbst, die wir zwar verstehen, indem wir das mit dem Lautgebilde sich gleichzeitig darstellende
denken, die die Ausländer aber nicht verstehen, wenn sie auch das Lautgebildet hören;
das Objekt schließlich sei das außer uns Existierende, wie z.B. Dion selber. Von
diesen dreien seien zwei materiell (σωματα), nämlich
das Lautgebilde und das Objekt, eins aber immateriell, nämlich die bezeichnete und
ausgesagte (λεκτον), welche wahr oder falsch werde.
(Sextus Empiricus, zit.nach Arens 1969, I.17f.)
Es werden also bei jedem Zeichenprozeß drei Dinge unterschieden (cf. Eco 1977: 28):
- das semainon (das Bezeichnende), d.h. das eigentliche Zeichen als physische
Entität (was wir als Klasse von Signalen definiert haben);
- das semainomenon (das Bezeichnete), d.h. das, was vom Zeichen ausgesagt wird
und keine physische Entität darstgellt;
- das pragma, d.h. das Objekt (im weitesten Sinne), auf das das Zeichen sich
bezieht und das wiederum eine physische Entität oder ein Ereignis bzw. eine Handlung
ist (gr.
hat ein sehr weites Bedeutungsfeld).
Abb. 3.9. Semiotisches Dreieck
(allgemeine Form)
Diese Auffassung vom Zeichenprozeß als dreistellige Zeichenrelation R(A, B, C)
tauchte in der geschichtlichen Entwicklung der Sprachphilosophie und der Linguistik
unter verschiedenen Bezeichnungen immer wieder auf. Es gibt eine Übereinstimmung
hinsichtlich der Dreiteilung, nicht jedoch über die Namen, mit welchen man die drei
Relationselemente (A, B, C) bezeichnen soll. Vgl. dazu die folgende Zusammenstellung
von Eco (1977:30):
Abb. 3.10. Das semiotische Dreieck in unterschiedlicher Interpretation
(nach Eco 1977: 30)
In dem im weiteren zugrunde gelegten Zeichenmodell steht A für Zeichen, B für Signifikat
und C für den außersprachlichen Sachverhalt. Die Verbindung zwischen A und C ist
allerdings nicht direkt; sie wird über einen Begriff vermittelt (das Signifikat),
der eine mentale Repräsentation des Gegenstands oder Sachverhalts ist. Wir können
mit einem bestimmten Zeichen dann auf ein Objekt verweisen, wenn wir über eine begriffliche
Repräsentation dieses Objektes verfügen, die mit dem fraglichen Zeichen assoziiert
ist.
Definition 3.15. Begriff
Ein Begriff ist eine mentale Repräsentation, eine "Wissenseinheit", die
Klassen von Objekten und Sachverhalten aufgrund ihrer invarianten Merkmale zu einem
Ganzen zusammenfaßt.
Definition 3.16. Bedeutung
Die Relation zwischen einem Zeichen und dem Begriff, der zwischen Zeichen und dem
außersprachlichen Bezug vermittelt, nennen wir Bedeutung.
Definition 3.17. Referenz
Die Beziehung zwischen einem Zeichen und dem außersprachlichen Gegenstand oder Sachverhalt,
auf den das Zeichen Bezug nimmt, nennen wir Referenz.
Zwei Ausdrücke können dieselbe Referenz und trotzdem verschiedene Bedeutung haben.
Ein vielzitiertes Beispiel ist das Wortpaar Abendstern und Morgenstern.
Beide beziehen sich auf den Planeten Venus. Sie haben jedoch verschiedene Bedeutung.
Die Bedeutungserklärung von Abendstern im großen Dudenwörterbuch lautet:
auffallend hell leuchtender Stern am Westhimmel nach Sonnenuntergang (Planet Venus),
die Erklärung für Morgenstern hingegen ist der auffallend hell leuchtende
Planet Venus am Morgenhimmel vor Sonnenaufgang.
Definition 3.18. Referent (Denotat)
Der Gegenstand oder Sachverhalt, worauf durch sprachliche Ausdrücke Bezug genommen
wird, wird auch Referent oder Denotat genannt.
Im obigen Beispiel wäre ‘der Planet Venus’ Referent sowohl von Abendstern
als auch von Morgenstern.
Die Beziehung zwischen dem Gegenstand oder Sachverhalt und dem Begriff können wir
Repräsentation nennen: Begriffe sind mentale Repräsentationen von Gegenständen und
Sachverhalten.
Wir werden im weiteren Verlauf dieses Kurses neben dem Paar Zeichen – Begriff
synonym die Bezeichnungspaare Signifikant – Signifikat und vor allem Ausdruck
– Inhalt verwenden. In der Abbildung 3.11. sind diese Paare typographisch
gekennzeichnet.
Abb. 3.11. Zeichenstruktur
Abb. 3.12. Denotation
Abb. 3.13. Intension
3.3. Dimensionen der Semiotik
Bei der bisherigen Behandlung des Zeichenbegriffes ist ein ganz wesentliches Element
unberücksichtigt geblieben, nämlich der Zeichenbenutzer. Dabei sind Zeichen ohne
Zeichenbenutzer eigentlich schlecht denkbar. Insbesondere kann der aktuelle Bezug
auf ein bezeichnetes Objekt, ein Referenzbezug, immer nur durch einen Zeichenbenutzer
zustandekommen. Zeichen verweisen nicht aus sich selbst heraus auf etwas anderes.
Ein Zeichen steht für etwas nur, wenn dieser Bezug von einem Zeichenbenutzer
hergestellt wird.
Unter Einbezug des Zeichenbenutzers (ZB) erweitert sich die dreistellige
Zeichenrelation zu einer vierstelligen R(Z,B,R,ZB), das semiotische Dreieck
wird zu einem semiotischen Viereck:
Diese vierstellige RelationR(Z,B,R,ZB) kann, ausgehend vom Zeichen Z
selbst, in eine Reihe von zweistelligen Relationen zerlegt werden, z.B.
, die
Beziehung zwischen einem Zeichen zu anderen Zeichen (Syntaktik),
, die
Beziehung zwischen Zeichen und Begriff (Semantik),
, die
Beziehung zwischen Zeichen und Referent (Sigmatik), und schließlich
, die
Beziehung zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer (Pragmatik).
Abb. 3.14. Semiotisches Viereck
Die Untersuchung der formalen Beziehungen zwischen Zeichen und anderen Zeichen,
d.h. die zulässigen Anordnungen von Zeichen (Zeichenketten) in einem gegebenen semiotischen
System wird Syntax genannt. Da der Terminus Syntax jedoch vorrangig in der Linguistik
zur Bezeichnung der "Satzlehre" verwendet wird, ist es angebracht, für
den allgemeineren Begriff einen anderen Terminus einzuführen.
Definition 3.19. Semantik
Syntaktik ist die Theorie der formalen Beziehungen zwischen den Zeichen eines semiotischen
Systems.
Definition 3.20. Semantik
Semantik ist die Theorie der Bedeutung in einem semiotischen System und untersucht
die Beziehungen zwischen Zeichen und Begriffen.
Definition 3.21. Pragmatik
Pragmatik ist die Theorie der Beziehungen zwischen Zeichen und Zeichenbenutzern
in einem semiotischen System.
In Anlehnung an Georg Klaus (1972) können wir die Theorie der Referenz als Sigmatik
bezeichnen.
Definition 3.22. Sigmatik
Sigmatik ist die Theorie der Referenz und untersucht die Beziehungen zwischen Zeichen
und ihren Referenten (Denotata) in einem semiotischen System.
Ein weithin bekanntes Zeichensystem ist das der Verkehrszeichen. Zwar gibt es dabei
eine Reihe von Zeichen, die, obwohl sie aus Bildelementen zusammengesetzt sind,
ganzheitlich zu interpretieren sind. Das Zeichen in Abb. 1.15. z.B. kommt,
abgesehen von Zusatzzeichen (wie hier die Angabe einer Entfernung), nur für sich
allein in dieser Form vor. Die meisten Zeichen sind jedoch nach bestimmten Prinzipien
aus Grundzeichen aufgebaut, d.h. es gibt für sie eine Syntaktik.
Alle diese Zeichen bestehen aus einem Grundzeichen, das den wesentlichen semantischen
und pragmatischen Gehalt des Gesamtzeichens bestimmt (Verbot, Gebot, Gefahr, Hinweis)
und den Hintergrund für ein weiteres Zeichen bildet, das den Gegenstand oder Sachverhalt
angibt, auf den sich ein Verbot, Gebot etc. bezieht. Alle Zeichen können optional
mit einem Zusatzzeichen versehen werden, daß den Geltungsbereich des Gesamtzeichens
einschränkt, z.B. durch eine Entfernungs-, Gewichts-, oder Maßangabe.
In der Straßenverkehrsordnung wird zwischen Gefahr-, Vorschrift-, und Richtzeichen
unterschieden, die mit verschiedenen Zusatzzeichen versehen sein können.
Abb. 3.16. Verkehrsgrundzeichen
Gefahrzeichen mahnen, sich auf die angekündigte Gefahr einzurichten (Semantik).
Das Ausrufungszeichen in Abb. 3.17 (a) warnt vor einer allgemeinen Gefahr,
die durch ein Zusatzzeichen wie das nebenstehende (Glatteisgefahr) näher bestimmt
werden kann.
Abb. 3.17 (b) warnt vor einer Lichtzeichenanlage.
Abb. 3.17. Gefahrzeichen
Vorschriftzeichen enthalten Gebote und Verbote.
Abb. 3.18. Verbotzeichen
Das Verbotgrundzeichen kann für sich alleine verwendet werden (Abb. 3.18 (a))
und bedeutet dann etwa "Verbot jeglichen Verkehrs", wofür die gängige
Formulierung "Verbot für Fahrzeuge aller Art" ist. Wird ein Verbotschild
mit einer Zahlenangabe verwendet, gilt etwa folgende semantische Regel
,
was äquivalent ist mit
Folgende Zeichen dienen dazu, durch Verbotzeichen ausgesprochene Verbote wieder
aufzuheben. Das Zeichen in Abb. 3.19. (a) ist sozusagen das Gegenstück des
allgemeinen Fahrverbots von Abb. 3.18 (a).
Abb. 3.19. Aufhebung von Verboten
Das Gegenstück zu Verbotzeichen sind die Gebotzeichen. Das Zeichen in Abb.
3. 20(a) ist ein Gebot für Radfahrer, einen für sie vorgesehenen Weg zu
benutzen.
Abb. 3.20. Gebotzeichen
Im Falle von Abb. 3.20 (b) zeigt sich wieder der Zusammenhang zwischen Gebot
und Verbot. Von der Semantik des Grundzeichens ausgehend gilt Gebot für Geschwindigkeit
≥ Wert (oder Mindesgeschwindigkeit = Wert),
was äquivalent ist mit Verbot für Geschwindigkeit < Wert. Entsprechend
heißt es in der Straßenverkehrsordnung (§ 41):
Zeichen 275 verbietet, langsamer als mit einer bestimmten Geschwindigkeit zu fahren.
Es verbietet Fahrzeugführern, die wegen mangelnder persönlicher Fähigkeiten oder
wegen der Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung nicht so schnell fahren können oder
dürfen, diese Straße zu benutzen.
Abb. 3.21. Aufhebung eines Gebots
Richtzeichen geben besondere Hinweise zur Erleichterung des Verkehrs. Aus
diesen Hinweisen können sich jedoch weitgehende Konsequenzen ergeben. Das Zeichen
in Abb. 3.22 (a) kennzeichnet einen Fußgängerüberweg. Mit dem Begriff Fußgängerüberweg
sind jedoch nach der Straßenverkehrsordnung (§26 StVO) eine Reihe von pragmatischen
Regeln verbunden:
(1) An Fußgängerüberwegen haben Fahrzeuge mit Ausnahme von Schienenfahrzeugen den
Fußgängern, welche die Fahrbahn auf dem Überweg erkennbar überschreiten wollen,
das Überqueren zu ermöglichen. Deshalb dürfen sie nur mit mäßiger Geschwindigkeit
heranfahren; wenn nötig, müssen sie warten.
(2) Stockt der Verkehr, so dürfen Fahrzeuge nicht auf den Überweg fahren, wenn sie
auf ihm warten müßten. [...]
Abb. 3.22. Richtzeichen
Ähnliches gilt für das Zeichen in Abb. 3.22 (b), das auf eine Kraftfahrstraße
hinweist. Für Kraftfahrstraßen gilt (nach § 18 der StVO) u.a., daß sie nur
mit Kraftfahrzeugen benutzt werden dürfen, die auf ebener Strecke schneller als
60 km/h fahren können.
Die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Aspekte eines Zeichens wie in
Abb. 3.23. lassen sich kurz wie folgt beschreiben.
Syntaktik
Das Zeichen ist zusammengesetzt aus einem Grundzeichen (Verbot), einem Bezugszeichen
(Kraftfahrzeug) und einem Zusatzzeichen (zeitliche Einschränkung der Gültigkeit),
wobei das Bezugszeichen in der Mitte des Grundzeichens steht, das Zusatzzeichen
an aber außerhalb der Kombination Grundzeichen + Bezugszeichen. Dies läßt sich am
besten in einer Graphik darstellen:
Abb. 3.24. Syntaktischer Aspekt
Semantik
Die Gesamtbedeutung des Zeichens ergibt sich aus der Kombinatorik der Bedeutungen
der Einzelzeichen als Verbot für Kraftfahrzeuge an Sonn- u. Feiertagen.
Pragmatik
Die pragmatische Bedeutung ist etwa: Der Zeichenempfänger soll veranlaßt werden,
die beschilderte Verkehrsstrecke an Sonn- und Feiertagen nicht mit einem Kraftfahrzeug
zu befahren. Bei Zuwiderhandlung muß er mit Sanktionen rechnen (Ermahnung, Verwarnung,
Bußgeld etc.).
3.4. Zeichentypologie
Zeichen können auf unterschiedliche Weise und nach verschiedenen Kriterien klassifiziert
werden. Für unsere Zwecke von besonderer Wichtigkeit sind die Zeichentypen, die
sich aus der Natur der Beziehung zwischen einem Zeichen und seinen Denotat ergeben:
Ikone, Indizes (Symptome), und Symbole:
Definition 1.23. Ikon
Ein Ikon (adj. Ikonisch) ist ein Zeichen, das aufgrund von bildhafter Ähnlichkeit
oder Analogie mit dem Denotat gebildet wird.
Der Terminus (das) Ikon ist vom griechischen Wort εικων
[eiko:n] ‘Bild, Ebenbild’ abgeleitet. Die Ähnlichkeit zwischen Zeichen
und Bezeichnetem kann visuell, akustisch, oder anders bedingt sein. Typische Beispiele
sind die Piktogramme, die heute weithin zur Erleichterung der internationalen Kommunikation
verwendet werden und Ikone in diesem Sinne sind. Ein stilisierter Rollstuhl z.B.
verweist auf besondere Einrichtungen für Behinderte etc. Ein Ikon besitzt nicht
alle Eigenschaften seines Denotats, d.h. es gibt Grade von Ikonizität. Peirce unterscheidet
drei Arten von Ikonen, und zwar Bilder (Fotographien, Zeichnungen), die ihrem
Gegenstand in einigen Merkmalen gleichen, Diagramme, die Beziehungen zwischen
dessen Teilen wiedergeben (z.B. ein Lageplan), und Metaphern, in denen sich
eine allgemeinere Parallelität widerspiegelt. Ikone in diesem Sinne wären dann auch
die Diagramme, die beispielsweise in der Syntax zur Darstellung der Satzstruktur
verwendet werden. Als Baumdiagramme sind sie einerseits Diagramme im Peirceschen
Sinne, andererseit auch Metaphern.
Ikone unterschiedlicher Ikonizität von Lautnachahmung bis Lautsymbolik sind auch
lautmalende Wörter wie kikeriki, mäh-mäh, miau, wau-wau, Kuckuck einerseits
und lautmalende Nachschöpfungen wie gurren, grunzen, knurren, surren, gackern, blöken,
rieseln, flitzen, Blitz, Gruft, Höhle andererseits.
Von Ikonen zu unterscheiden sind Zeichen, deren Vorkommen auf die Anwesenheit oder
Existenz ihrer Referenten hinweist (Anzeichen).
Definition 3.24. Index
Ein Index (Adj. indexikalisch) ist ein Zeichen, das durch eine direkte reale (z.B.
kausale) Beziehung zwischen einem "Anzeichen" und einem Objekt konstituiert
wird.
Rauch beispielsweise ist ein Anzeichen von Feuer, dunkle Wolken ein Anzeichen für
bevorstehenden Regen, eine Windfahne zeigt die Windrichtung an, der Moosbewuchs
eines Baumes die Wetterseite usw. Je nach Art der Beziehung können weitere Unterarten
von Indizes unterschieden werden. So gibt es beispielsweise einen Untertyp, der
nicht nur auf die Existenz eines Objekts hinweist, sondern vielmehr auf einen besonderen
Zustand, in dem sich das Objekt befindet. Solche Zeichen werden Symptome genannt.
Fieber beispielsweise ist ein Symptom für Krankheit, Lallen ein Symptom für Trunkenheit.
Definition 3.25. Symptom
Ein Index der auf einen besonderen Zustand eines Objektes oder einer Situation verweist,
wird Symptom genannt.
Indizes fehlt im Vergleich zu anderen Zeichentypen (Ikon und Symbol) meist das Merkmal
der Intentionalität, d.h. sie werden nicht absichtlich als Zeichen gesetzt, sondern
ergeben sich aus den Zusammenhängen der Situation, in der sie auftreten. Sie werden
daher häufig auch nicht als Zeichen anerkannt (cf. Linke et al. 1991:20f.)
Ikone, Indizes und Symptome sind durch die Objekte, auf die sie verweisen, motiviert.
In natürlichen Sprachen spielen diese Zeichentypen allerdings nur eine marginale
Rolle. Bei der Mehrheit aller sprachlichen Zeichen ist die Beziehung zwischen dem
Zeichen und dem Bezeichneten völlig arbiträr (beliebig) bzw. konventionell (auf
stillschweigender Übereinkunft beruhend) in dem Sinne, daß es keinen natürlichen
(in der Natur des Gegenstandes liegenden) oder kausalen Zusammenhang zwischen der
Zeichengestalt und dem Objekt gibt. Diese konventionellen Zeichen werden Symbole
genannt:
Definition 3.26. Symbol
Zeichen sind Symbole (Adj. symbolisch), wenn die Beziehung zwischen ihnen und ihren
Denotata arbiträr oder konventionell ist.
In den meisten Fällen sind also die Zeichen, mit welchen wir es zu tun haben werden,
symbolische Zeichen.
3.5. Modelle des sprachlichen Zeichens
Bisher haben wir Zeichen im allgemeinen Sinne der Semiotik behandelt. Für uns von
besonderem Interesse sind natürlich die Zeichensysteme natürlicher Sprachen. Wir
wollen daher im folgenden kurz einige Zeichenmodelle besprechen, die für die Entwicklung
der Sprachwissenschaft in unserem Jahrhundert von großer Bedeutung gewesen sind.
Das Zeichenmodell von de Saussure
Von größter Bedeutung für die Geschichte der neueren Sprachwissenschaft war das
Zeichenmodell von Ferdinand de Saussure. Für de Saussure sind Zeichengestalt (image
acoustique, Lautbild) und Begriff (concept) beide psychische Gegebenheiten,
die in unserem Gehirn durch Assoziation eng miteinander verknüpft sind. Diese Verknüpfung
ist so eng, daß beide Elemente als zwei Seiten der gleichen Sache erscheinen, wie
Vorder- und Rückseite eines Blatt Papiers oder die beiden Seiten einer Medaille.
Lautbild und Begriff können sich gegenseitig evozieren. Die Präsenz des Lautbildes
/baum:/ z.B. evoziert den damit assoziierten Begriff "Baum", und umgekehrt
(im Bild wird dies durch die beiden Pfeile ausgedrückt).
Im Gegensatz zu unserer bisherigen Verwendung von Zeichen im Sinne von Zeichengestalt,
verwendet de Saussure den Begriff Zeichen (frz. signe) für die Assoziation
von Lautbild und Begriff. Für die beiden Komponenten des Zeichens schlägt er die
Bezeichnungen signifié (Begriff) und signifiant (Lautbild)
vor, die unmittelbar den bereits verwendeten Bezeichnungen Signifikat und Signifikant
entsprechen.
Abb. 3.26. Das bilaterale Zeichen bei de Saussure
Prinzip der Arbitrarität
Nach Saussure besitzt das Zeichen zwei wesentliche Eigenschaften, das der Arbitrarität
und das der Linearität.
Die Eigenschaft der Arbitrarität haben wir bereits kennengelernt. Sie besagt, daß
trotz der wechselseitigen Abhängigkeit von Signifikant und Signifikat (Ausdruck
und Inhalt), diese Verbindung nichts Naturgegebenens ist. Sie ist vielmehr willkürlich
oder arbiträr. Dabei ist willkürlich hier in dem Sinne zu verstehen, daß die Zeichenform
(Ausdruck) in keiner Weise durch den Inhalt bestimmt ist und umgekehrt auch der
Inhalt nicht aus der Form ableitbar ist. Daß dies so ist, wird deutlich, wenn man
die Ausdrücke in verschiedenen Sprachen für äquivalente Inhalte vergleicht: dt.
Baum /baum/, engl. tree /tri:/, frz. arbre
/arbrə/, swahili mti, japanisch ki , arabisch
/ʃagar(at)/ russ.
/djerivɐ/ etc.
Das Prinzip der Arbitrarität gilt jedoch strikt nur bei den Basiswörtern einer Sprache,
und auch da bilden die ikonischen Zeichen eine Ausnahme. Bei komplexen Zeichen,
d.h. bei zusammengesetzten und abgeleiteten Wörtern (Komposita: Eisenbahn, Sonnenuntergang;
Ableitungen: Arbeiter, unmöglich), ist die Zuordnung von Inhalt und Ausdruck
nicht völlig arbiträr. Die Bedeutung komplexer Zeichen ist wenigstens partiell aus
den Bedeutungen der Grundzeichen herleitbar. Die Assoziation zwischen dem Ausdruck
und dem Inhalt solcher komplexen Zeichen ist relativ (zu den Grundwörtern) motiviert.
Das Prinzip der Arbitrarität spielt eine wichtige Rolle in der Logik der historisch
vergleichenden Sprachwissenschaft, die den Prozeß der Veränderung von Sprache in
der Zeit zum Gegenstand hat. Würde das Prinzip der Arbitrarität nicht gelten, dann
wäre die Tatsache, daß Ausdruck und Inhalt sprachlicher Zeichen sich unabhängig
voneinander verändern können, schwer zu erklären.
Andererseits können wir feststellen, daß die Zeichenformen von äquivalenten Zeicheninhalten
in ganz verschiedenen Sprachen sehr große Ähnlichkeiten aufweisen können (vgl. Abb.
3.27).
nhd.
|
ai.
|
gr.
|
lat.
|
air.
|
ahd.
|
ae.
|
‘Mutter’
|
mātǡ
|
μητήρ
|
mater
|
mathir
|
muoter
|
modor
|
‘Vater’
|
pitǡ
|
πατήρ
|
pater
|
athir
|
fater
|
fæder
|
‘Bruder’
|
bhrǡtā
|
φρατήρ
|
frater
|
brathir
|
bruoder
|
bróðor
|
Abb. 3.27.
In Einzelfällen mag eine solche Identität zufällig sein. idg. *mātē(r), pətē(r),
*bhrātē(r)
Konventionalität
Arbitrarität bedeutet nicht, daß es in die freie Wahl Sprechers gestellt ist, welche
Ausdrücke mit welchen Inhalten assoziiert werden, sondern daß ein Ausdruck nicht
durch den Inhalt motiviert ist.
Prinzip der Linearität
Die primäre Ausdrucksform der Sprache ist die gesprochene Sprache. Da Sprechen einen
zeitlichen Ablauf hat, folgt daraus, daß Sprache linear ist.
Bühlers Organonmodell
Das Zeichenmodell von Karl Bühler zeichnet sich dadurch aus, daß es bestimmte Zeichenfunktionen
von vornherhein mit einbezieht. Bühlers Organonmodell ist als Zeichenmodell zugleich
schon ein Kommunikationsmodell.
Bühler bezieht sich bei der Vorstellung seines Modells auf Plato, der im Dialog
Kratylos sagen läßt, die Sprache sei ein organon didaskalein, d.h.
"ein Werkzeug, womit einer dem anderen etwas mitteilt über die Dinge."
Daher der Name "Organon-Modell".
Die drei grundlegenden Funktionen, die jedes Sprachliche Zeichen hat, sind Ausdruck,
Darstellung und Apell. Nehmen wir folgende Kommunikationssituation an: Vater
und Sohn befinden sich in einem Zimmer. Der Vater äußert das "Schallphänomen"
/es 'tsi:t/. Daraufhin geht der Sohn zum offenen Fenster und schließt es. Das
Schallphänomen ist als Zeichen
(1) Symbol: Es stellt den Sachverhalt "im Zimmer ist ein Luftzug"
dar (Darstellungsfunktion);
(2) Symptom: Es kann den inneren Zustand des Sprechers ausdrücken ("der
Luftzug ist mir unangenehm", Ausdrucksfunktion);
(3) Signal: "Ich wünsche, daß der unangenehme Zustand beseitigt wird"
(Appellfunktion).
Abb. 3.28. Das Organonmodell
Bühler erklärt sein Zeichenmodell selbst wie folgt:
Der Kreis in der Mitte symbolisiert das konkrete Schallphänomen. Drei
variable Momente an ihm sind berufen, es dreimal verschieden zum Rang eines Zeichens
zu erheben. Die Seiten des eingezeichneten Dreiecks symbolisieren diese drei Momente.
Das Dreieck umschließt in einer Hinsicht weniger als der Kreis (Prinzip der abstraktiven
Relevanz). In anderer Richtung wieder greift es über den Kreis hinaus, um anzudeuten,
daß das sinnlich Gegebene stets eine apperzeptive Ergänzung erfährt. Die Linienscharen
symbolisieren die semantischen Funktionen des (komplexen) Sprachzeichens. Es ist
Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom
(Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit
es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres
oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen.
(Bühler 1934: 28).
3.6 Sprache als Zeichensystem
Sprache als eine Menge von Zeichen besteht nicht aus einer bloßen Anhäufung dieser
Zeichen, vielmehr bilden diese ein System, das in seiner Gesamtheit durch den augenblicklichen
Zustand seiner Glieder bestimmt ist. Der Inhalt eines Zeichens ist richtig nur im
Zusammenspiel mit den anderen Zeichen und deren Inhalten zu bestimmen. Dieses bestimmt
seinen Wert (frz. valeur).
Definition 3.27. Wert[valeur]
Der Wert eines sprachlichen Zeichens ist nach de Saussure sein Stellenwert im Zeichensystem,
bzw. seine Bedeutung im System.
Das frz. Wort mouton wurde in das Englische entlehnt und erscheint dort als
mutton. Die beiden Wörter scheinen äquivalent und somit ineinander übersetzbar
zu sein. Bei genauerer Betrachtung stellen wir jedoch fest, daß sie in ihren jeweiligen
Systemen einen unterschiedlichen Wert haben, weil das engl. mutton in Opposition
zu sheep steht. Der Bedeutungsumfang von mouton ist im Englischen
auf zwei Zeichen aufgeteilt. Ähnliches gilt für das engl. Paar heaven : sky
gegenüber dem deutschen Himmel
3.7 Linguistik als Strukturwissenschaft
Der Begriff Struktur ist heutzutage allgegenwärtig: Man spricht von Gesellschaftsstruktur,
Wirtschaftsstruktur, Infrastruktur, Kristallstruktur, Strukturplan etc. und eben
auch von Sprachstruktur. Der Strukturbegriff steht in engem Zusammenhang mit dem
System. Systeme sind strukturiert, Strukturen sind Strukturen von Systemen. Die
Begriffe System und Struktur sind grundlegend für die moderne Linguistik, die durch
Bezeichnungen wie Strukturalismus, Strukturalistisch und strukturell charakterisiert
wird. Dabei hat allerdings die Bezeichnung "Strukturalismus" bereits eine
spezielle Bedeutung angenommen: sie benennt eine bestimmte, heute überholte Richtung
der modernen Linguistik. Inzwischen ist auch die Bezeichnung "Systemlinguistik"
aufgekommen, die oft im abwertenden Sinne von Sprachwissenschaftlern gebraucht wird,
die die Hauptaufgabe der Linguistik nicht in der Beschreibung des Sprachsystems
sehen. Wunderlich (1971: 92f.) unterscheidet drei Verwendungsweisen des Strukturbegriffs:
- Struktur als Eigenschaft der Wirklichkeit
- Strukturalismus als Verfahren
- Strukturen als Eigenschaften von Theorien
ad 1 "Die Welt erscheint uns nicht als chaotisch oder amorph, vielmehr stellen
wir fest, daß sich Erscheinungen voneinander abheben, daß sie von unterschiedlicher
Wichtigkeit für uns sind, daß sie sich wiederholen können, daß sie in charakteristischer
Weise voneinander abhängen. Eine Erklärung hierfür liefert die Annahme, daß die
Welt und die Art, in ihr zu existieren und zu kommunizieren, selbst wohlgegliedert
sind. Strukturen werden als Eigenschaften der Wirklichkeit verstanden." (Wunderlich
1971: 92)
ad 2 "Unter der Annahme, daß die Welt strukturiert ist, hat es Sinn, methodische
Prozeduren zu entwickeln, um die Art und die Form der Strukturen aufzudecken. Im
linguistischen Strukturalismus verstand man unter strukturellem Vorgehen genau dies:
nämlich die Entwicklung, Formulierung und Anwendung regulärer Entdeckungsprozeduren
zur Auffindung von sprachlichen Strukturen." (93)
ad 3 "Erkenntnis bildet sich, indem Erfahrungen durch gewisse Schemata filtriert
werden. In den empirisch-analytischen Wissenschaften wird die Erkenntnis in einer
systematischen Form angestrebt, sie wird niedergelegt in Gestalt von Theorien. Strukturen
sind Eigenschaften dieser Theorien, also eines wissenschaftlichen Konstrukts. In
diesem Sinne läßt sich etwa von physikalischen oder linguistischen oder soziologischen
Strukturen sprechen. [...] Die formale Struktur der Theorie steht ... als ein (Abstraktions-)
Modell, oder als ein Bild, für die Zusammenhänge der Wirklichkeit. Die Beschreibungsstruktur
rekonstruiert bzw. modelliert die Struktur des Beschriebenen." (93)
Die Linguistik ist eine Strukturwissenschaft im Sinne dieser drei Verwendungsweisen
des Strukturbegriffes:
- Sie geht von der Annahme aus, daß ihr Objekt, die Sprache, strukturiert ist,
- sie entwickelt methodische Verfahren zur Aufdeckung dieser Strukturen,
- sie konstruiert Theorien, die diese Strukturen abbilden sollen.
3.8 System und Struktur
Es wurde gesagt, die Linguistik sei eine Systemwissenschaft und eine Strukturwissenschaft.
Im alltäglichen Gebrauch werden die Begriffe System und Struktur häufig gebraucht.
Sie haben jedoch in verschiedenen Zusammenhängen teilweise verschiedene Bedeutungen.
Für die Wissenschaft müssen die Begriffe System und Struktur jedoch genau definiert
sein.
Es ist sinnvoll, die Begriffe System und Struktur zusammen zu behandeln, weil sie
sich gegenseitig bedingen. Systeme sind strukturierte Gegenstände, Strukturen sind
eine Eigenschaft von Systemen, sie existieren nicht unabhängig von Systemen. Ein
System ist eine "nach Ordnungsprinzipien gegliederte Mannigfaltigkeit von materiellen
Dingen, Prozessen usw. (materielles System) oder von Begriffen, Aussagen usw. (ideelles
System)" (Klaus/Buhr, s.v. System). In dieser Definition sind zwei zentrale
mathematische Begriffe enthalten, welche die Grundlage für eine allgemeine Definition
des Systembegriffs bilden, nämlich die Begriffe Relation (Ordnungsprinzipien) und
Menge (Mannigfaltigkeit von Dingen, Prozessen, Begriffen, Aussagen etc.). Im allgemeinsten
Sinn ist ein System eine Menge von Elementen und eine Menge von Relationen (Beziehungen)
zwischen den Elementen dieser Menge.
Definition 3.28. System
Ein System ist ein geordnetes Paar Σ = 〈M, R〉, wobei M eine Menge von Elementen ist und R
eine Menge von Relationen R1, R2, … Rn
in M.
Definition 3.29. Struktur
Ist Σ = 〈M, R〉 ein System,
dann ist R die Struktur von Σ
Beispiel: Eine Schulklasse kann als System in diesem allgemeinen Sinne aufgefaßt
werden, das als nach verschiedenen Gesichtspunkten geordnet betrachtet werden kann.
Beispielsweise liefert die Körpergröße eine mögliche Ordnungsrelation, z.b. x >
y. Interessanter sind allerdings Relationen, welche die Sozialstruktur einer
Klasse verdeutlichen können. Man könnte beispielweise versuchen, durch eine Befragung
die gegenseite Beliebtheit und Wertschätzung zu ermitteln, etwa durch die Frage:
"Neben welchem Schüler möchtest du gerne sitzen?" Nehmen wir an, daß bei
der Antwort drei Namen angegeben werden konnten (1., 2. und 3. Wahl). Das Ergebnis
zeigt folgende Tabelle. Dabei wurde für jeden Schüler ein Maß für die Beliebtheit
ermittelt, indem die 1. Wahl mit 1,0, die 2. mit 0,5 und die 3. mit 0,25 bewertet
wurde. Schon die bloßen Zahlen machen einiges deutliche, z.B. daß der Schüler Anton
in der Klasse völlig isoliert ist, während die Schüler Dora und Hans jeweils eine
dominierende Rolle spielen.
|
Anton
|
Berta
|
Clara
|
Dora
|
Emil
|
Fritz
|
Hans
|
Inge
|
Anton
|
|
3
|
|
2
|
|
|
1
|
|
Berta
|
|
|
2
|
1
|
3
|
|
|
|
Clara
|
|
2
|
|
1
|
3
|
|
|
|
Dora
|
|
2
|
3
|
|
|
|
1
|
|
Emil
|
|
|
3
|
|
|
2
|
1
|
|
Fritz
|
|
|
3
|
|
2
|
|
1
|
|
Hans
|
|
|
|
1
|
|
2
|
|
3
|
Inge
|
|
2
|
|
1
|
|
|
3
|
|
Beliebtheit:
|
0
|
3,25
|
1,25
|
4,5
|
1
|
1
|
4,25
|
0,25
|
Tab. 3.1.
Sehr viel klarer wird die Soziostruktur der Klasse allerdings, wenn man die Beziehungen
graphisch darstellt:
Abb. 3.29. Soziogramm
Im folgenden Diagramm sind wechselseitige Beziehungen nach ihrer Stärke durch Verbindungen
unterschiedlicher Dicke dargestellt.
Abb. 3.30. Soziogramm (Variante)
Es ist deutlich zu sehen, daß Dora und Hans Kristallisationspunkte bilden. Obwohl
Beziehungen zwischen Mädchen und Jungen bestehen, ist erkennbar, daß Mädchen und
Jungen Untergruppen bilden, die durch die sehr starke Verbindung zwischen Dora und
Hans zur Gesamtgruppe gefügt werden. Anton ist völlig isoliert und orientiert sich
primär an der Jungengruppe (Hans ist 1. Wahl). Inge ist ebenfalls isoliert und über
Dora primär an der Mädchengruppe orientiert. Die schwache wechselseitige Beziehung
zwischen Hans und Inge könnte darauf hindeuten, daß er so etwas wie eine Schutzfunktion
ausübt.
Das Klassenbeispiel sollte dazu dienen, die Begriffe System und Struktur an einem
anschaulichen Beispiel zu verdeutlichen. Bei der Betrachtung von Sprache als einem
System von Zeichen werden wir auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen eine Vielzahl
von sprachlichen Elementen mit vielfältigen Beziehungen untereinander kennenlernen.
Sprache wird sich darstellen als ein komplexes System von Systemen.
Auf einer sehr allgemeinen Ebene können zwei grundlegende Arten von Beziehungen
unterschieden werden. In dem Satz
(3.1.) Hans schenkte Maria eine Rose.
kann das Wort Rose durch die Wörter Nelke oder Katze ersetzt
werden, ohne daß sich an der Grammatikalität des Satzes etwas ändert:
(3.2.) Hans schenkte Maria eine
Die Wörter Rose, Nelke, und Katze sind hinsichtlich bestimmter invarianter
Eigenschaften austauschbar, sie kommutieren. Im vorliegenden Fall handelt es sich
Substantive mit femininem Genus im Akkusativ. Elemente, die in einem gegebenen Kontext
austauschbar sind, stehen in paradigmatischer Beziehung zueinander; sie bilden ein
Paradigma.
Definition 3.30. paradigmatische Beziehungen
Beziehungen zwischen Einheiten, die in ein und demselben Kontext auftreten können
und sich in diesem Kontext gegenseitig auschließen heißen paradigmatisch.
Definition 3.31. Opposition
Paare von Einheiten, die in paradigmatischer Beziehung zueinander stehen, bilden
eine Opposition.
In unserem Beispiel bilden Rose und Nelke eine Opposition. Häufig
wird die Beziehung der Opposition durch einen Doppelpunkt gekenntzeichnen: Rose:Nelke.
Definition 3.32. Paradigma
Die Gesamtheit der Elemente, die in ein und demselben Kontext kommutieren, d.h.
in paradigmatischer Beziehung zueinander stehen, bildet ein Paradigma.
Der Begriff Paradigma ist insofern relativ, als es jeweils auf die Definition des
Kontextes ankommt. In unserem Beispiel kommutieren Rose und Katze.
Es kann jedoch angebracht sein, den Kontext durch zusätzliche Bedingungen einzuschränken.
Beispielsweise gilt für Rose, daß es durch Blume ersetzt werden kann,
ohne daß sich der Wahrheitsgehalt des Satzes ändert. Wenn ich behaupte, daß die
Aussage
(3.3.) Hans schenke Maria eine Rose
wahr ist, muß ich dies auch für die Aussage
(3.4.) Hans schenke Maria eine Blume
gelten lassen. Man sagt, daß der Satz (1..) den Satz (1.4.) logisch impliziert.
Man kann jetzt also die Frage stellen, welche Wörter mit Rose kommutieren
derart, daß (1.4.) logisch impliziert wird. Dies trifft z.B. für folgende Fälle
zu:
(3.5.) Hans schenkte Maria eine
Die Wörter in geschweiften Klammern bilden ein (lexikalisches) Paradigma, dessen
Elemente sich dadurch auszeichnen, daß sie jeweils dem Wort Blume begrifflich
untergeordnet sind. Diese Beziehung der begrifflichen Unterordnung nennt man Hyponymie.
Die Wörter Rose, Nelke, Tulpe etc. sind jeweils (Ko-)Hyponyme des Hyperonyms
(Oberbegriff) Blume:
(3.6.)
Betrachten wir nun den folgenden einfachen Satz:
(3.7.) Hunde bellen.
Man könnte hier beispielsweise bellen durch knurren, laufen, hecheln, schlabbern,
winseln etc. substituieren, was wiederum zu einem Paradigma führen würde.
Ich kann jedoch Hunde nicht durch Katzen ersetzen, weil Katzen
bellen semantisch abweichend ist. Wenn man jedoch gleichzeitig bellen
durch miauen ersetzt, erhält man einen akzeptablen Ausdruck (Katzen miauen),
den man irgendwie als zum gleichen "Muster" wie Hunde bellen gehörend
empfindet. Dieses Muster könnte man als Tiergattung + typisches Geräusch der Gattung
darstellen. Zu jedem Element aus dem Paradigma Tiergattung gehört eine spezifisches
Element aus dem Paradigma typisches Geräusch der Gattung.
Man nennt systematische Beziehungen zwischen Einheiten, die an verschiedenen Positionen
in einer linearen Anordnung bestehen, syntagmatisch.
Definition 3.33. syntagmatische Beziehung
Im Gegensatz zu den paradigmatischen Beziehungen bezeichnet man Beziehungen, die
auf dem linearen Charakter der Sprache beruhen, als syntagmatische Beziehungen.
In dem Satz
(3.9.) I am in the garden
stehen I und am in syntagmatischer Beziehung zueinander. Wenn
I durch you ersetzt wird, muß gleichzeitig am durch are
ersetzt werden.
Abb. 3.31. Paradigmatik und Syntagmatik
Auf der paradigmatischen Achse bilden {I, you, he, she, it, we, you, they}
und {am, are, is, are} jeweils ein Paradigma.
Definition 3.34. Syntagma
Eine Wortgruppe, die als syntaktische Einheiten fungiert, heißt Syntagma.
In diesem Sinne ist in the garden eine Syntagma.