1 Einleitung und allgemeine Grundbegriffe

1.1 Sprache als Zeichensystem

Struktur des sprachlichen Zeichens
Abb. 1.1. Struktur des sprachlichen Zeichens

1.2 Phonetik und Phonologie

Bezeichnung Phonologie

Abb. 1.2. Phonologie

Die beiden Bezeichnungen Phonetik und Phonologie sind aus dem griechischen Wort φψνή (pho:ne:) abgeleitet, welches 'Laut, Stimme' bedeutet. Die beiden wissenschaftlichen Disziplinen Phonetik und Phonologie haben also etwas mit Lauten zu tun, und zwar mit solchen Lauten, die von Menschen mithilfe ihrer Sprechwerkzeuge hervorgebracht werden, und als Bestandteil menschlicher gesprochener Sprache fungieren können. In der traditionellen Grammatik werden diese Teilgebiete analog zu den anderen sprachwissenschaftlichen Teilgebieten wie Wortlehre (Morphologie), Bedeutungslehre (Semantik) oder Satzlehre (Syntax) unter der Bezeichnung Lautlehre abgehandelt. Lautlehre ist nach einer Wörterbuchdefinition die "Wissenschaft von den Lauten, ihrer Erzeugung in den Sprechwerkzeugen, ihrer Entwicklung und Geschichte (Phonetik) u. ihrer Funktion in den sprachlichen Systemen (Phonologie) als Teilgebiet der Sprachwissenschaft."

Die Bezeichnung Phonologie wird in zwei Bedeutungen verwendet, einmal als Synonym für Lautlehre insgesamt, einmal für die Teildisziplin, die sich mit der "Funktion von Lauten in den sprachlichen Systemen" beschäftigt.

[Bezug auf Trubetzkoy 1958]

Sprachbegriff bei Saussure

Abb. 1.3. Der Sprachbegriff bei Saussure

Aufgabe der Phonetik ist es, jene Laute zu beschreiben und zu klassifizieren, die durch den menschlichen Sprechapparat hervorgebracht werden können, wobei sich die Beschreibung und die daraus resultierende Klassifikation nicht auf Einzelsprachen beschränkt sondern quasi das gesamte Potential menschlicher Lautproduktion zu erfassen sucht. Die Klassifikation von Lauten erfolgt weitgehend über die Beschreibung der physiologischen Mechansimen, die zur Bildung dieser Laute nötig sind. Dazu wird untersucht, wie das Zusammenspiel verschiedener Körperteile, also z.B. der Lunge, des Kehlkopfes, der Zunge etc., zur Bildung eines Lautes führt.

Die Phonologie hingegen befaßt sich mit der Verwendung von Lauten in der menschlichen Sprache und also in Einzelsprachen. Es wird untersucht, wie sich einzelne Sprachen bestimmte Laute zunutze machen, wie diese Laute in einer Sprache verteilt sind und welche Funktion sie in dieser Sprache haben. Das Ziel dabei ist u.a., die in einer Sprache vorkommenden phonologischen Gesetzmäßigkeiten zu ermitteln und somit das der Sprache zugrunde liegende Lautsystem zu entschlüsseln.

Die Untersuchung der Bildung von Lauten einerseits und der Lautstruktur von Sprache oder einer Einzelsprache andererseits ist keine abgehobene, abstrakte Beschäftigung. Beide Fachrichtungen sind wissenschaftliche Disziplinen, die eng an konkretem Material arbeiten und deren Erkenntnisse einer ganzen Reihe von Tätigkeitsfeldern zugute kommen.

Im Bereich der Patholinguistik, einem Zweig der angewandten Linguistik, der sich mit Theorie, Diagnose und Therapie von Sprach- und Sprechstörungen befaßt, erfordert beispielsweise die Diagnostik und Behandlung von Artikulationsstörungen genaue Kenntnisse über den Aufbau und die Funktion der menschlichen Sprechorgane. Um eine Störung akkurat zu erkennen und eine geeignete Therapie einzuleiten, um z.B. entscheiden zu können, ob die Störung anatomische Ursachen hat oder nicht, ist phonetisches Wissen unabdingbar.

Ein weiteres Gebiet, in welchem es auf phonetische und phonologische Kenntnisse ankommt, ist die maschinelle Verarbeitung gesprochener Sprache. Das gilt gleichermaßen für die Erzeugung wie für die Analyse gesprochener Sprache. In diesem Bereich sind in neuerer Zeit beachtliche Fortschritte gemacht worden, so gibt es z.B. Diktiersysteme, die über automatische Spracherkennung kontinuierlich gesprochenen Text direkt in geschriebenen Text umsetzen können. Bei der Entwicklung solcher Systeme spielt phonetisches (in diesem Fall auch aus der akustischen Phonetik, s.u.) und phonologisches Wissen eine große Rolle. Allein für die Analyse der komplexen Beziehung zwischen Aussprache und Schreibweise von sprachlichen Einheiten ist eine fundierte Kenntnis der phonologischen Struktur der jeweiligen Sprache notwendig.

Ein großes Anwendungsgebiet für Phonetik und Phonologie ist natürlich das Gebiet des Fremdsprachenlernens und -lehrens. Als Lehrer/Lehrerin im Fremdsprachenunterricht sollte man nicht nur in der Lage sein, Aussprachefehler von Schülern zu erkennen, sondern auch, diese Fehler angemessen zu korrigieren. Bei bestimmten, in der Muttersprache nicht vorkommenden Lauten, können bei der Aussprache Probleme auftauchen. In solchen Fällen ist es nützlich, zu wissen, wie diese Laute gebildet werden, um so konkrete Hinweise zur Aussprache geben zu können.

Wenn man sich beruflich bzw. während des Studiums mit Sprache oder einer Einzelsprache auseinandersetzen muß, sind phonetische und phonologische Grundkenntnisse selbstredend unerläßlich. Eine der wichtigsten Quellen der Linguistik, nämlich die gesprochene Sprache, würde ohne phonetische Kenntnisse unzugänglich sein, dann hätten auch phonologische Regeln und somit ein wichtiger Bestandteil vieler Grammatiken an Sinn verloren. Der englische Philologe, Linguist und Phonetiker Henry Sweet, der das Vorbild für die Figur des Professor Higgins in G.B. Shaw's Stück Pygmalion abgab, beschrieb die Phonetik vor mehr als 100 Jahren als "... the indispensable foundation of all study of language whether that study be purely theoretical, or practical as well..." (Sweet 1877: v).

[Ausführungen zu "Aussprache"]

1.3 Phonetik

Linguistische Phonetik

Abb. 1.4. Linguistische Phonetik

Im weitesten Sinne befaßt sich die Phonetik mit allen Schallereignissen, die durch die menschlichen Sprechorgane erzeugt werden können, und zwar unabhängig davon, ob oder wie diese als systematische Sprachlaute in einer Sprache vorkommen. Dafür verwenden wir die Bezeichnung Allgemeine Phonetik. Die allgemeine Phonetik hat sich zu einer eigenständigen eher naturwissenschaftlichen Disziplin entwickelt, die in ihre Forschung andere Disziplinen wie z.B. Physik, Mathematik, Physiologie, Psychologie und Informatik einbezieht.

In einem engeren, und für uns relevanten Sinne ist die Phonetik die Wissenschaft, die jene Lautgebilde untersucht, die als Bestandteile der menschlichen Sprache bzw. einer Einzelsprache fungieren. In diesem Sinn ist Phonetik also ein Teilgebiet der Linguistik, dem Fachgebiet, dessen Gegenstand die menschliche Sprache als Ganzes ist. Für diese Art der Phonetik wird der Begriff Linguistische Phonetik verwendet. Wenn im weiteren Verlauf des Skripts die Rede von Phonetik ist, ist damit eben diese linguistische Phonetik gemeint. Die linguistische Phonetik kann als Durchschnitt der allgemeinen Phonetik und der Linguistik gesehen werden (s. Abb. 1.4).

1.4 Phonologie

Während die Phonetik Sprachlaute unter einem physiologisch-akustischem Aspekt betrachtet, untersucht die Phonologie Sprachlaute unter einem linguistischen Aspekt. Das soll bedeuten, daß in der Phonologie untersucht wird, auf welche Art und Weise das menschliche Lauterzeugungspotential in einzelnen Sprachen ausgeschöpft wird und welche phonologischen Gesetzmäßigkeiten für diese Sprachen gelten. Der Gegenstand der Phonetik ist die Lautsubstanz, der Gegenstand der Phonologie ist die Lautform. Für die beiden Begriffe Substanz und Form finden sich bei Crystal (1980) die folgenden Definitionen:

Definition 1.1. Substanz (engl. substance )

Der Terminus Substanz bezieht sich auf das undifferenzierte konkrete Rohmaterial aus dem Sprache aufgebaut ist, d.h. die Schallwellen der Rede (phonische Substanz) bzw. die sichtbaren Merkmale der "Schreibe" (graphische Substanz).

Definition 1.2. Form

Der Terminus Form meint die abstrakten Strukturen oder Relationsgeflechte, die der Substanz durch die Sprache "übergestülpt" werden. Die Substanz wird durch die Sprache geformt und in Einzelsprachen in je spezifischer Weise.

Mit Substanz ist hier ganz wörtlich der materielle Stoff gemeint, aus dem Sprache besteht: aus Schallwellen bei gesprochener Sprache, aus Schriftzeichen bei geschriebener Sprache. Natürlich kommt diese Substanz nicht unabhängig von einer bestimmten Form, also einer bestimmten Sprache, vor. Ist den Rezipienten, also den Hörern bzw. Lesern, diese Form allerdings unbekannt, wie es bei einer 'fremden', z.B. nicht derselben Sprachfamilie wie die Muttersprache angehörenden Fremdsprache der Fall ist, so verbleibt bei der Perzeption nur die Substanz, die ohne Kenntnis der Form uninterpretierbar ist.

Wellenform

Abb. 1.5.


Wellenform des Sprachausschnitts available to us [ə'vɛiləbl tʊ əz] aus einer Sprachaufnahme von Noam Chomsky.

Während für die Phonetik alle Eigenschaften von Sprachlauten relevant sind, befaßt sich die Phonologie primär mit deren linguistischen Funktionen. Deshalb kann die Phonologie auch als funktionale Phonetik bezeichnet werden. Die Hauptaufgabe und Funktion von Sprachlauten ist es, der Identifikation linguistischer Einheiten zu dienen. Mit linguistischer Einheit sind hier Morpheme, Wörter, Sätze usw. gemeint. Um diese Einheiten identifizieren zu können, müssen sie voneinander unterscheidbar sein, und diese Unterscheidbarkeit wird durch Sprachlaute gewährleistet. Die Frage nach Unterschieden und Kontrasten ist in diesem Kontext für die Linguistik also sehr bedeutsam. Die Phonetik untersucht dabei hauptsächlich Unterschiede in der Lautsubstanz, welche für die Phonologie insbesondere dann eine Rolle spielen, wenn ein entsprechender Unterschied in der Funktionalität und also in der Lautform vorliegt.

Diese Aussagen können durch ein Beispiel illustriert werden. Der Vergleich der beiden englischen Wörter pit und bit zeigt, daß der Unterschied in der lautlichen Substanz des jeweiligen Anlautes liegt. Die Verwendung von p einerseits und b andererseits emöglicht es, diese beiden Wörter von einander zu unterscheiden. Phonetisch gesehen liegt der Hauptunterschied zwischen p und b darin, daß die Stimmbänder bei der Produktion des b schwingen, während dieses beim p nicht der Fall ist. Dieser Unterschied taucht übrigens in einer ganzen Reihe von Wortpaaren auf, wie z.B. tin:din, chin:gin, oder call:gall. Ein weiteres Merkmal von p ist, daß es "behaucht" ist, d.h. daß die Aussprache dieses Lautes mit einem spürbaren Ausstoßen von Luft einhergeht. Dieses Merkmal wird Aspiration genannt. Das Merkmal der Aspiration taucht in einer phonetischen Beschreibung von p mit Sicherheit auf. Phonologisch betrachtet, also in bezug auf Unterschiede und Kontraste linguistischer Einheiten, spielt die Aspiration in diesem Fall aber keine große Rolle: Selbst wenn das p nicht aspiriert ausgesprochen würde, wäre der Unterschied zwischen dem p von pit und dem b von bit noch groß genug, um diese beiden Wörter voneinander zu unterscheiden.

In der Lautstruktur der englischen Sprache hat die Aspiration keinen funktionalen Status und würde deshalb auch nur untergeordnet in einer phonologischen Beschreibung des Englischen vorkommen. Daran wird deutlich, daß sich die Phonologie auf einer abstrakteren Ebene mit Lauten auseinandersetzt als die Phonetik: Es kommt bei der Phonologie nicht auf alle, sondern eben auf die funktionalen bzw. distinktiven Merkmale von Lauten an. Die Grundeinheiten, mit denen in der Phonologie gearbeitet wird, bestehen jeweils aus der Summe der funktionalen bzw. distinktiven Merkmale eines Lautes. Eine solche abstrakte Grundeinheit heißt Phonem. Phoneme werden typographisch durch Schrägstriche gekennzeichnet: /p/.

Das nächste Beispiel zeigt, daß unter bestimmten Voraussetzungen auch nicht-distinktive Eigenschaften Bestandteil der phonologischen Beschreibung einer Sprache sind:

Die lautlichen Repräsentationen der beiden englischen Wörter leaf und feel unterscheiden sich zunächst nur dadurch, daß die Phoneme, aus denen sie bestehen, in umgekehrter Reihenfolge stehen: /l/,/i:/ und /f/ für leaf bzw. /f/, /i:/ und /l/ für feel. Es besteht aber auch ein Unterschied in der Art, in der das /l/ ausgesprochen wird. In der Tat gibt es für das englische Phonem /l/ mehrere Aussprachevarianten. Das /l/ aus leaf wird als "helles L" bezeichnet, das /l/ aus feel als "dunkles L". Diese phonetisch eindeutige Unterscheidung spielt funktional betrachtet keine große Rolle: selbst wenn das englische feel mit einem "hellen L" gesprochen würde, was dann so klänge wie das deutsche Wort viel, wäre die Bedeutung im Kontext klar interpretierbar. So gesehen ist dieser Unterschied phonologisch irrelevant. Die Aussprache von feel mit "hellem L" ist aber nicht englisch-authentisch, d.h. daß Sprecher, die die Unterscheidung zwischen "hellem L" und "dunklem L" nicht berücksichtigen, mit Akzent sprechen. Das spricht dafür, diesen Unterschied in einer phonologischen Beschreibung zu berücksichtigen. Ein weiteres Argument dafür ist in der Tatsache begründet, daß die Distribution der beiden Formen gesetzmäßig ist: das "dunkle L" steht am Ende eines Wortes oder Morphems oder vor einem anderen Konsonanten: ball, killed, hilt, das "helle L" an allen anderen Positionen. Die Unterscheidung der beiden Aussprachevarianten des Phonems /l/ kann also mit Bezug auf deren Distribution getroffen werden, also mit Bezug auf die Position, die sie in einer linguistischen Einheit haben. Das heißt, daß diese Unterscheidung in bezug auf die linguistische Form und nicht auf die Substanz getroffen wird. In einem solchen Fall gehören auch nicht-distinktive Merkmale zur phonologischen Beschreibung.

1.5 Zweige der Phonetik

Lautliche Kommunikation
Abb. 1.6. Lautliche Kommunikation

Die Graphik in Abb. 1.6. illustriert unterschiedliche Teilaspekte der lautlichen Kommunikation: Lautproduktion, Lautübertragung und Lautwahrnehmung. Diese verschiedenen Aspekte korrespondieren mit den Gegenständen unterschiedlicher Zweige der Phonetik. Wie wir sehen werden, bietet jeder dieser Zweige potentiell die Möglichkeit, Sprachlaute zu klassifizieren.

Zweige der Phonetik
Abb. 1.7. Zweige der Phonetik

1.5.1 Artikulatorische Phonetik

Die Artikulatorische Phonetik, auf welche in diesem Kurs der Schwerpunkt gelegt ist, untersucht Sprachlaute unter dem Aspekt der Lautproduktion. Bei diesem Zweig der Phonetik geht es also um die physiologischen Prozesse, die sich bei der Artikulation vollziehen. Die artikulatorische Phonetik hat eine lange Tradition, da die Lautproduktion und bestimmte Aspekte der Lautperzeption zu den zugänglichsten Aspekten der Phonetik gehören. So wurden schon in der Antike Sprachlaute über Höreindrücke und die Beschreibung der Stellung der Artikulationsorgane klassifiziert. Die im internationalen phonetischen Alphabet verwendete Klassifikation von Lauten basiert ebenfalls auf Artikulationsmerkmalen.

1.5.2 Akustische Phonetik

Die akustische Phonetik untersucht Sprachlaute unter dem Aspekt der Lautübertragung, d.h. ihr Gegenstand ist die physikalisch-akustische Struktur von Sprachlauten.

Die akustische Phonetik, durch die eindeutige und objektiv meßbare Analysen der Sprachlaute erbracht werden können, gehört eher der allgemeinen Phonetik denn der linguistischen Phonetik an. Im Vergleich zur artikulatorischen Phonetik ist die akustische Phonetik eine relativ junge Disziplin. Das liegt an der Tatsache, daß die für dieses Fach notwendigen technischen Hilfsmittel wie z.B. Spektrographen auch erst in neuerer Zeit entwickelt wurden. In diesem Bereich werden Laute über ihre physikalischen Eigenschaften, unter anderem ihrer Frequenz, klassifiziert. Im Hinblick auf die maschinelle Verarbeitung gesprochener Sprache (d.h. Analyse und Synthese gesprochener Sprache) gewinnt die akustische Phonetik zunehmend an Bedeutung: Da Maschinen weder über die Sprechwerkzeuge (Kehlkopf, Zunge, Zähne usw.) noch über ein menschliches Gehör und die mit der Wahrnehmung von Lauten verbundenen Empfindungen verfügen (Zischlaut, Schnalzlaut etc.), ist die physische Seite der Lautschallwellen in diesem Zusammenhang besonders wichtig.

1.5.3 Auditive Phonetik

Die Auditive Phonetik beschäftigt sich mit Sprachlauten unter dem Aspekt der Lautperzeption. Dabei werden die anatomischen und neuro-physiologischen Prozesse bei der Wahrnehmung von Sprachlauten untersucht.

Dieses Teilgebiet der Phonetik beschäftigt sich einerseits mit der für die Lautwahrnehmung relevanten Anatomie des Gehörs, andererseits mit der Dekodierung oder dem Verstehen und Verarbeiten des Wahrgenommenen im Gehirn. Individuelle Wahrnehmung und subjektive Lautempfindung bestimmter Laute (Laute werden differenziert durch Kontraste wie z.B. "hart - weich", "hell - dunkel") bieten keine gute Basis für die Klassifikation von Sprachlauten. An späterer Stelle wird jedoch deutlich, daß die Beschreibung bestimmter Aspekte von Lautstrukturen zumindest teilweise auf dem subjektivem Erkennen der Beziehungen zwischen Lautempfindungen basiert.

Obwohl die drei genannten Zweige der Phonetik allesamt auf vielfältige Weise zur linguistischen Untersuchung gesprochener Sprache beitragen, ist es doch die artikulatorische Phonetik, die in der linguistischen Phonetik am einflußreichsten ist; folglich werden wir uns in diesem Kurs auch primär mit diesem Teilbereich beschäftigen.

1.6 Phasen der Sprachproduktion

Sprechen ist die primäre Form menschlicher Kommunikation und erfüllt somit eine wesentliche soziale Funktion. Für unsere Zwecke definieren wir die Funktion gesprochener Sprache als Medium zur übermittlung von Information(en). Die Erzeugung der gesprochenen Sprache ist dabei ein komplexer Prozeß, welchen man in verschiedene Stadien aufteilen kann. Eine Aufteilung dieses Prozesses ist keine neue Erfindung, schon Grammatiker des alten Indien haben unterschiedliche Stadien beschrieben:

The soul, apprehending things with the intellect, inspires the mind with a desire to speak; the mind then excites the bodily fire which in its turn impels the breath. The breath, circulating in the lungs, is forced upward and, impinging upon the head, reaches the speech-organs and gives rise to speech sounds. (Zitiert aus Catford 1977: 2)

Das erste dieser Stadien, "apprehending things with the intellect", also das Erkennen oder Erfassen der Information, die übermittelt werden soll, liegt natürlich jenseits des Zugriffs phonetischer Untersuchungen. Davon abgesehen können die folgenden Phasen unterschieden werden (Catford 1977: 2ff.; 1988: 3ff.):

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  1. Neurolinguistische Programmierung
  2. Die neuromuskuläre Phase
  3. Die organische Phase
  4. Die aerodynamische Phase
  5. Die akustische Phase
  6. Die neurorezeptive Phase
  7. Die neurolinguistische Identifikation

Diese Phasen sollen in den folgenden Abschnitten kurz erläutert werden.

1.6.1 Neurolinguistische Programmierung

In der ersten Phase werden die grammatischen, lexikalischen, phonologischen und phonetischen Merkmale, die die zu übertragende Information enthalten, als eine Art neurales (=die Nerven betreffendes) Programm enkodiert. Dieses Programm steuert die Auswahl, die Abfolge und das Timing der nun einsetzenden neurophysiologischen Ereignisse.

1.6.2 Neuromuskuläre Phase

In dieser Phase werden die durch das neurale Programm vorgebenen motorischen Impulse über verschiedene Nervenleitungen als Muskelreize in den Brustkorb, die Kehle, den Mund usw. weitergegeben. Diese Muskelreize führen zur Bewegung (Kontraktion und Entspannung) bestimmter Muskeln oder Muskelpartien.

1.6.3 Organische Phase

Als Folge der Kontraktion und Entspannung bestimmter Muskeln und Muskelpartien nehmen die damit verbundenen Sprechorgane bestimmte Stellungen ein oder vollziehen bestimmte Bewegungen. Da es sich in diesem Stadium nicht mehr um einzelne Muskeln bzw. Muskelpartien handelt, sondern um ganze Sprechorgane, wie die Lunge, den Kehlkopf, die Zunge usw., nennt man diese Phase organische Phase.

1.6.4 Aerodynamische Phase

Die unterschiedlichen Stellungen und Bewegungen, die die Sprechorgane während der dritten Phase einnehmen bzw. vollziehen, führen dazu, daß sich die physische Form des Ansatzrohres ändert. Dieses wiederum hat zur Folge, daß die im Ansatzrohr vorhandene Luft komprimiert oder ausgedehnt wird, und sich somit in ständiger Veränderung befindet. Diese Phase ist die aerodynamische Phase.

1.6.5 Akustische Phase

In dieser Phase geht es um die übertragung der in der aerodynamischen Phase erzeugten wahrnehmbaren Schallwellen. Die übertragung der Schallwellen verläuft dabei eigentlich auf zwei Ebenen: zum einen werden sie über das Medium Luft von dem Mund des Sprechers zu den Ohren aller, die sich in Hörweite befinden, übertragen. Das beinhaltet also auch die Ohren des Sprechers selbst. Zum anderen werden die Schallwellen über den Schädel des Sprechers zu dessen Ohren übertragen. [Dieser wichtige Aspekt der akustischen Phase, genannt Feedback, wird weiter unten wieder aufgegriffen.]

1.6.6 Neurorezeptive Phase

Wenn die Schallwellen auf das Ohr des Hörers treffen, werden eine ganze Reihe neurophysiologischer Prozesse in Gang gesetzt, deren Summe die neurorezeptive Phase konstituieren.

1.6.7 Neurolinguistische Identifikation

Im Anschluß an die neurorezeptive Phase und als Ergebnis dieser findet beim Hörer ein weiterer, interpretativer (im Sinne von 'übersetzender') Prozeß statt, in welchem die empfangenen neurorezeptiven Signale als bestimmter Laut oder bestimmte Lautsequenz erkannt werden. Diese Phase entspricht quasi der Umkehrung der ersten Phase und kann als Phase der neurolinguistischen Identifikation bezeichnet werden. Anzumerken ist, daß die tatsächliche Dekodierung des Gehörten nicht in diese Phase fällt, der Verstehensprozeß von gesprochener Sprache liegt wiederum jenseits phonetischer Untersuchung.

1.7 Rückkopplung

Die Aufteilung des Prozesses des Sprechens in einzelne Phasen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Phasen eng aneindergekoppelt sind und ein zusammenhängendes, ineinanderfließendes Ganzes bilden. Das Sprechen ist auch ein selbstgesteuerter und -geregelter Prozeß, bei dem die Rückkopplung ein wichtiges Kriterium ist. Das bedeutet, daß Sprecher während des Sprechvorganges auch immer selbst ihr Sprechen wahrnehmen und kontrollieren. Wie wichtig diese Rückkopplung ist, wird immer dann offensichtlich, wenn sie, und somit die Steuerung des Sprechvorganges, gestört ist. Das passiert unter dem Einfluß von Alkohol oder Drogen, oder durch anatomische Ursachen wie z.B. die Schädigung des Gehörs oder durch Taubheit. Der Prozeß, mithilfe dessen Sprecher während des Sprechvorgangs ihr Sprechen wahrnehmen können, heißt Rückkopplung.

Dabei nun kann man zwischen zwei unterschiedlichen Arten unterscheiden. Die eine Art ist bereits weiter oben angesprochen worden: Die beim Sprechen entstehenden Schallwellen werden über die Luft und über die Schädelknochen auf daß Gehör der Sprecher übertragen, d.h. sie hören sich praktisch selbst. Dieses nennt man auditive Rückkopplung.

Die andere Art der Rückkopplung hat damit zu tun, daß Sprecher die Bewegungen spüren, die die beim Sprechvorgang aktiven Sprechwerkzeuge und Muskeln vollziehen. Diese Rückkopplung, auch kinaesthetische Rückkopplung genannt, kann unter bestimmten Bedingungen zum Erliegen kommen, z.B. nach einem Zahnarztbesuch, bei dem man Betäubungsspritzen bekommen hat. In einer solchen Situation hat man sowohl die Kontrolle als auch das Rückkopplung der beeinträchtigten Mundpartien verloren, und die Steuerung des Sprechvorgangs ist gestört.

Mithilfe dieser Prozesse und der dadurch gewonnenen muskularen, organischen, aerodynamischen und akustischen Informationen ist es möglich, den Sprechvorgang während des Ablaufes zu kontrollieren. Normalerweise verlaufen diese Rückkoppelungsprozesse im Unterbewußtsein; eine Aufgabe der phonetischen Schulung besteht darin, sie bewußt zu machen.

1.8 Segmente, Kategorien und Merkmale

Linguistische Einheiten wie Wörter, Morpheme, Phrasen etc. sind sprachliche Zeichen, welche sich, wie andere Zeichen auch, aus einer Inhaltsseite und einer Ausdrucksseite zusammensetzen. In in diesem Zusammenhang spricht man auch von der Zuordnung eines Inhaltes zu einem Ausdruck. Mit Inhalt ist dabei (umgangssprachlich) die Bedeutung eines Zeichens gemeint, Ausdruck bezieht sich auf die Form dieses Zeichens, bei gesprochenen sprachlichen Zeichen also Sprachlaute. In der Zeichenlehre werden unterschiedliche Komplexitätsgrade von Zeichen unterschieden, so kann die Kombination mehrerer einfacher Zeichen ein neues, komplexes Zeichen erzeugen. Dies trifft auch auf linguistische Einheiten zu, beispielsweise können Sätze als komplexe Zeichen aufgefaßt werden. Wie eingangs bereits gesagt, besteht die Funktion von Sprachlauten darin, den Hörern zu ermöglichen, unterschiedliche linguistische Einheiten und Kombinationen dieser Einheiten zu identifizieren. In der Muttersprache (oder ggf. einer aus derselben Sprachfamilie stammenden Sprache) ist das eine einfache Angelegenheit. Bei einer fremden Sprache sieht das schon ganz anders aus; so ist es z.B. für Sprecher, die arabische Sprachen nicht kennen, sehr schwierig, beim Hören einer solchen Sprache überhaupt zu erkennen, welche der verwendeten Lautkombinationen Wörter oder Phrasen sind, und wo ein Satz anfängt bzw. wieder aufhört. (Für Sprecher, die nicht in germanischen Sprachen geschult sind, taucht dasselbe Problem natürlich beim Hören des Englischen oder Deutschen auf.)

1.8.1 Phonetische Segmente

Wie der zuletzt angesprochen Punkt verdeutlichen soll, handelt es sich bei der gesprochenen Sprache um ein Kontinuum. Ein Blick auf die Wellendarstellung eines gesprochenen Satzes untermauert diese Feststellung.

Wellendarstellung Spektrogramm SpektrumFormanten

Abb. 1.8.: Aspekte des Lautsignals: Oszillosgramm, Spektrogramm, Spektrum, Formanten

Beispiel

Auch von einem physiologischen Standpunkt aus kann diese Aussage erhärtet werden: während des Sprechvorgangs befinden sich die betroffenen Sprechwerkzeuge in ständiger Bewegung. Dennoch werden diese Lautkontinua in Segmente eingeteilt, ein Lautkontinuum wird also beim Hören als eine Sequenz von Lautsegmenten wahrgenommen. Es stellt sich die Frage, wie denn die Segmentierung eines Lautkontinuums vorgenommen werden kann, wie man also etwas, das lückenlos zusammenhängt, in einzelne Elemente einteilen kann. Die Anwort lautet: es wird nur darauf geachtet, in welchen Extrempositionen sich die Sprechwerkzeuge befinden; die übergänge zwischen diesen Extrempositionen bleiben unberücksichtigt. Dazu ein Beispiel: Ein Wort wie Atta ist ein lückenloser übergang von einer maximalen öffung /a/ zu einem völligen Verschluß /t/ und wieder zu einer maximalen öffnung /a/. Dieser übergang findet kontinuierlich statt, die Sprechwerkzeuge vollziehen dabei eine fließende Bewegung. Für die Segmentierung allerdings sind nur die eben genannten Extrempositionen maximale öffnung - totaler Verschluß relevant; die übergangsbewegungen werden außer Acht gelassen. Als Ergebnis einer solchen Segmentierung verbleiben dann Einheiten, die umgangssprachlich in etwa den Konsonanten und Vokalen entsprechen.

Definition 1.3. Segment

Die kleinsten identifizierbaren sequentiellen Einheiten der Sprache heißen Segmente. Eigenschaften, die sich nur auf eines dieser Segmente beziehen, heißen segmental.

Der zweite Satz dieser Definition ist vielleicht erklärungsbedürftig; man muß dabei im Auge behalten, daß eine Lautsequenz auch als Ganzes bestimmte Eigenschaften hat, die über die Ausdehnung eines einzelnen Segments herausgehen. Diese Eigenschaften, die suprasegmental genannt werden, beinhalten Merkmale wie z.B. den Tonhöhenverlauf einer Lautsequenz.

1.8.2 Phonetische Merkmale

Die Lautsegmente einer Sprache können auf der Basis gemeinsamer phonetischer Eigenschaften zu Klassen zusammengefaßt werden. Eine solche Klasse heißt phonetische Kategorie.

Definition 1.4. phonetische Kategorie

Eine phonetische Kategorie ist eine Klasse von Lautsegmenten, die eine oder mehrere phonetische Eigenschaften teilen.

Wir erinnern uns an das Beispiel mit dem Wortpaaren pin:bin, tin:din, chin:gin, fine:vine, thigh:thy, seal:zeal, call:gall. Der Vergleich der Anlaute des jeweiligen Wortpaares ergab, daß beim Anlaut des ersten Wortes die Stimmbänder nicht schwingen, während dies beim Anlaut des zweiten Wortes der Fall ist. Somit sind die Segmente p, t, k, f, s... Elemente derselben phonetischen Kategorie: Das gemeinsame phonetische Merkmal ist, daß die Stimmbänder bei der Erzeugung dieser Laute nicht schwingen. Ebenso bilden die Segmente b, d, k, v, z... eine phonetische Kategorie; bei diesen Lauten geraten die Stimmbänder in Schwingung. Eine phonetischen Kategorie konstituiert sich, wie bereits gesagt, aus einer Klasse von Lautsegmenten. Und über diese Zugehörigkeit zu Kategorien werden in der Phonetik die Laute klassifiziert: ein Merkmal bei der Klassifikation eines Lautes, z.B. des Lautes /b/, ist die Zugehörigkeit zu einer phonetischen Kategorie, also in diesem Fall die Kategorie der stimmhaften Laute. Ein Merkmal bei der Klassifikation des Lautes /p/ ist dessen Zugehörigkeit zur Kategorie der STIMMLOSEN Laute. Dieser letzte Satz kann auch negativ formuliert werden: Ein Merkmal bei der Klassifikation des Lautes /p/ ist, daß dieser nicht der Kategorie der stimmhaften Laute angehört. Auf diese Weise haben wir nur ein einziges Attribut, nämlich 'Stimmhaft', und zwei verschiedene Werte für dieses Attribut, nämlich positiv (+) und negativ (-).

Definition 1.5. phonetisches Merkmal

Die Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit eines Lautsegments zu einer phonetischen Kategorie ist ein phonetisches Merkmal dieses Segmentes. Phonetische Merkmale werden in Form von Attribut-Wert-Paaren notiert, wobei der Attributname der Kategorie entspricht.

In dieser Definition taucht der Begriff Attribut-Wert-Paar auf, der kurz erklärt werden soll. Attribut-Wert-Paare sind eine in der Linguistik häufig verwendete Notationsform für die Merkmale von linguistischer Einheiten. Ein kleines Beispiel aus einem ganz anderen Bereich der Linguistik wird diese Notationskonvention begreiflich machen:

Für die Deklination englischer Personalpronomina (I, she, it, yours, our usw.) sind die sekundären grammatischen Kategorien Person, Numerus, Genus und Kasus relevant. Das Pronomen her beispielsweise hat folgende Flexionsmerkmale: 3. Person Singular Feminin Objective (=Objektskasus). Hier kann auch gesagt werden: das Pronomen her hat für das Attribut 'Person' den Wert '3.', für das Attribut 'Numerus' den Wert 'Singular', für das Attribut 'Genus' den Wert 'Feminin' und für das Attribut 'Kasus' den Wert 'Objective'. Als Merkmalsmatrix dargestellt sehen diese Attribut-Wert-Paare so aus:

Merkmalsmatrix

Dabei hat jedes dieser Attribute einen bestimmten Wertebereich. Das Attribut 'Person' hat den Wertebereich 1. Person, 2. Person und 3. Person. Das Attribut 'Numerus' hat den Wertebereich Singular und Plural. Das Attribut 'Genus' hat den Wertebereich Feminin, Maskulin und Neutrum usw. Die Attribute und Wertebereiche in diesem Beispiel sind so angelegt, daß sie (potentiell oder tatsächlich) mehr als nur zwei Werte umfassen. Es gibt aber auch Attribute, die auf dem Prinzip der Binarität aufgebaut sind, d.h. daß die Attribute jeweils entweder den Wert positiv (+) oder den Wert negativ (-) haben. Ein Beispiel dafür haben wir bereits kennengelernt: Das Attribut 'Stimmhaft' hat die beiden Werte + und -. Attribut-Wert-Paare werden in eckigen Klammern notiert; bei binären Attributen steht der Wert vor dem Attribut: /b/ [+ stimmhaft].

Eine phonetische Klassifizierung des Lautes /p/ würde u.a.beinhalten, daß dieser stimmlos ist und zur Kategorie der aspirierten Laute gehört:

Matrix

Vielleicht kann man schon sehen, wo das hinführt: Sprachlaute werden als Menge von Attribut-Wert-Paaren repräsentiert, d.h. daß die Klassifikation eines Sprachlautes über die Summe der phonetischen Merkmale dieses Lautes vollzogen wird.

Diese eher theoretischen Ausführungen über Segmente, phonetische Kategorien und phonetische Merkmale erzeugt u.U. milde Verwirrung, darum sollen die Kerngedanken kurz zusammengefaßt werden:

Lautkontinua werden mit Bezug auf die Extremposition der Sprechwerkzeuge segmentiert, also in Segmente zerlegt. Diese Segmente bilden dann auf der Basis gemeinsamer Eigenschaften Klassen. Diese Klassen heißen Phonetische Kategorien. Die Zugehörigkeit eines Lautsegmentes zu einer solchen Kategorie ist ein Phonetisches Merkmal dieses Segments. Die Menge aller phonetischen Merkmale eines Segmentes konstituiert die phonetische Klassifikation dieses Segmentes. Phonetische Merkmale werden in Form von Attribut-Wert-Paaren notiert.

Abschließend noch eine Anmerkung zu diesem Abschnitt, für die wir die folgenden Aussagen betrachten:

  • Der Laut /b/ hat die Eigenschaft, stimmhaft zu sein.
  • Der Laut /b/ gehört zur phonetischen Kategorie der stimmhaften Laute.

Bei der Beschreibung eines individuellen Lautes, hier also dem /b/, spielt es qualitativ keine Rolle, ob man nun die erste oder die zweite Formulierung wählt. Der Sinn der Klassenbildung wird immer dann ersichtlich, wenn man Aussagen macht, die sich eben nicht auf individuelle Laute, sondern auf ganze Kategorien beziehen. (Segmentierung und Klassifikation sind, nicht nur in diesem Bereich, zentrale Termini in der Linguistik.) Um diesen Punkt zu veranschaulichen, ziehen wir ein Beispiel aus der deutschen Sprache heran:

Tage
-
Tag
Liebe
-
lieb
baden
-
Bad

Es läßt sich bei der Aussprache dieser Wortpaare feststellen, daß der im Inlaut des ersten Wortes stehende stimmhafte Konsonant diese Stimmhaftigkeit verliert, wenn er am Wortende steht. Wir haben also folgenden Gegensatz:

Inlaut:
Auslaut: 
Tage: /g/
Tag: /k/ 
Liebe: /b/
lieb: /p/ 
baden: /d/
Bad: /t/ 

Diese Erscheinung, auch Auslautverhärtung genannt, trifft aber nicht nur auf die individuellen Laute /g/, /b/ und /d/ in den individuellen Wörtern Tage, Liebe und Baden zu. Es betrifft vielmehr alle Laute, die zur Kategorie der stimmhaften Verschluß- und Reibelaute gehören, und zwar bei allen Wörtern, bei denen diese Laute im Auslaut vorkommen können. Es ist die Bildung von phonetischen Kategorien, die es ermöglicht, solche Gesetzmäßigkeiten in einem Satz auszudrücken. Es müssen nicht alle Einzelfälle aufgezählt werden, um ein Phänomen erschöpfend zu beschreiben; sondern es werden Aussagen über Klassen gemacht.

1.9 Prozesse der Lautproduktion

Produktionsprozesse Luftstromprozesse Phonationsprozesse Artikulationsprozess Der Oro-Nasale Prozess [+nasal] vs. [-nasal]
Abb. 1.9. Lautbildungsprozesse

In den folgenden Kapiteln soll schrittweise herausgearbeitet werden, welche verschiedenen phonetischen Kategorien es gibt. Damit ergibt sich gleichermaßen die phonetische Klassifikation von Sprachlauten. Da wir uns an die artikulatorische Phonetik halten, läuft die Ermittlung der phonetischen Kategorien über die Beschreibung der Lautproduktion der jeweiligen Laute. Im Ansatz haben wir das bereits bei den Lauten /b/, /d/, /g/ usw. gesehen, die allesamt die phonetische Kategorie der stimmhaften Laute bilden. Natürlich passiert bei der Lautproduktion mehr, als das nur die Stimmbänder schwingen (oder eben nicht). Die einzelnen Prozesse bilden die Schwerpunkte der folgenden vier Kapitel, wobei einem jeden dieser Teilprozesse ein Kapitel gewidmet ist.

In der artikulatorischen Phonetik wird die Lautproduktion in vier Teilprozesse eingeteilt. (Diese vier Teilprozesse gehören allesamt in die organische und die aerodynamische Phase der Phases of Speech.) Das heißt, daß jeder einzelne Laut als ein Produkt des Zusammenspiels dieser vier Prozesse betrachtet wird. Im einzelnen handelt es sich dabei um

  • den Luftstromprozeß, durch den überhaupt erst die Erzeugung von Lauten ermöglicht wird, da er quasi die Energiequelle eines Lautes, nämlich einen Luftstrom, liefert;
  • den Phonationsprozeß, der sich auf die unterschiedliche Stellungen oder öffnungsgrade der Stimmritze (= Glottis) bezieht, und in dem sich u.a. entscheidet, ob ein Laut stimmhaft ist oder nicht;
  • den oro-nasalen Prozeß, der sich auf die unterschiedlichen Stellungen des Gaumensegels (= Velum) bezieht, und in dem sich entscheidet, ob ein Laut nasal bzw. nasaliert ist oder nicht;
  • den Artikulationsprozeß, der sich auf die unterschiedlichen Stellungen der Artikulationsorgane bezieht, und in welchem der Luftstrom durch die Bewegung von Zunge und Lippen auf unterschiedliche Arten modifiziert wird.

Wird diese Einteilung auf einen Laut angewendet, wird also ermittelt, welcher Art der Luftstromprozeß ist, ob der Laut stimmhaft oder nicht ist, wie die Stellung des Velums ist und also ob der Laut nasal ist oder nicht, und welche Artikulationsorgane in den Lautbildungsprozeß involviert sind, so gelangt man zu einer umfassenden Klassifikation eines Lautes.

Literatur.

Catford, J . C .
1977 Fundamental Problems in Phonetics. Edinburgh University Press: Edinburgh
1988 A Practical Introduction to Phonetics. Clarendon Press: Oxford
Crystal, David
1975 The English Tone of Voice. Edward Arnold: London
1980 A Dictionary of Linguistics and Phonetics. André Deutsch

Laver, John

1980 The Phonetic Description of Voice Quality. Cambridge University Press: Cambridge
Sweet, Henry
1877 Handbook of Phonetics. Clarendon Press: Oxford