9 Phonologie
9.1 Phonetische Merkmale
Aus Gründen, die später im Zusammenhang mit phonologischen Prozessen deutlicher
werden, ist es vorteilhaft, das "menschliche Lautbildungspotential" in
Form von phonetischen Merkmalen charakterisieren zu können, die zumindest auf der
phonologischen Ebene zweiwertig sind. Bei der Behandlung der Artikulationsart aber
auch an anderen Stellen haben wir bereits eine Anzahl solcher Merkmale kennengelernt,
wie z.B. [±sonorant], [±silbisch], [±konsonantisch], [±verschlossen],
[±nasal], [±stimmhaft] etc.
Unglücklicherweise sind Attribute, die sich auf Artikulationsstellen beziehen inhärent
mehrwertig. Wenn wir die aktiven und passiven Artikulatoren als separate Attribute
betrachten, haben wir beispielsweise bei den ersteren den Wertevorrat {labial, apikal,
laminal, (prä- oder post-) dorsal}, bei den letzteren {labial, dental, alveolar,
postalveolar, palatal, velar, uvular, pharyngal, glottal}. Es ist nicht so ohne
weiteres ersichtlich, wie mehrwertige Merkmale 〈aktiv, labial〉, 〈passiv,
dental〉 in ein System von binären Oppositionen aufgebrochen werden können.
In ihrer Monographie Sound Pattern of English (1968) haben
Noam Chomsky und Morris Halle einen auf phonetischen Merkmalen basierenden Beschreibungsrahmen
für alle Sprachen entwickelt, der zu einem Standard geworden ist. In dieser Arbeit
diskutieren sie
the individual features that together represent the phonetic capabilities of man.
Each feature is a physical scale defined by two points, which are designated by
antonymous adjectives: high-nonhigh, voiced-nonvoiced (voiceless), tense-nontense
(lax).
(Chomsky & Halle 1968: 299)
Jedes Merkmal hat ein artikulatorisches Korrelat, das unabhängig von anderen kontrollierbar
ist. Dabei werden folgende Gruppen zugrunde gelegt:
- Oberklassenmerkmale
-
- Silbisch
- Sonorant
- Konsonantisch
- Resonanzmerkmale
-
- Koronal
- Anterior
- Zungenkörper-Merkmale
- Sekundäre Öffnungen
- Artikulationsart-Merkmale
-
- Kontinuierlich (von mir durch verschlossen ersetzt)
- Verschlußlösungs-Merkmale
- Artikulationsspannung
- "Source features"
-
9.1.1 Die neutrale Stellung
Nach Chomsky & Halle sind alle Artikulationsbewegungen als Abweichungen von
einer Normalposition der Sprechwerkzeuge beschreibbar. Diese wird als neutrale Stellung
bezeichnet:
Definition 1.18. neutrale Stellung
Als neutrale Stellung bezeichnen wir die Position, welche die Sprechwerkzeuge einnehmen,
unmittelbar bevor eine Person zu sprechen beginnt.
Diese neutrale Stellung kann folgendermaßen beschrieben werden:
-
Während beim normalen Atmen das Velum leicht gesenkt ist, so daß die Luft auch
durch die Nase entweichen kann, liegt bei der neutralen Stellung ein velischer Verschluß
vor.
-
Der Zungenrücken, der beim ruhigen Atmen in entspanntem Zustand flach im Mund
liegt, ist in der neutralen Stellung bis etwa zur Höhe des englischen Vokals /e/
in /bed/ angehoben, während das Zungenblatt etwa in der Ruheposition verbleibt.
-
Da Sprache gewöhnlich nur beim Ausatmen hervorgebracht wird, ist der Luftdruck
in den Lungen unmittelbar vor dem Sprechen höhrer als der atmosphärische Druck.
-
Vor dem Beginn des Sprechens wird die Glottis soweit verengt, daß ein normaler
ungehinderter Luftstrom zur Schwingung der Stimmfalten führt (Bernoulli-Effekt).
9.1.2 Oberklassen-Merkmale
Die Oberklassen-Merkmale sind bereits im Zusammenhang mit der Artikulationsart ausführlich
diskutiert und motiviert worden. Sie dienen u.a. dazu die in einer Sprache vorkommenden
phonetischen Segmente in Hauptklassen einzuteilen, die vor allem für die syntagmatische
Lautstruktur (lineare Abfolge) relevant sind. Traditionellerweise unterscheidet
man, Obstruenten, Nasale,
Liquide, Halb-vokale (oder Gleitlaute)
und Vokale.
Vokale kommen typischerweise als Silbengipfel vor und können daher mit dem Merkmal
[+silbisch] gekennzeichnet werden. Die Liquide /l, r/ und die Nasale
/m, n, ŋ/ sind normalerweise
unsilbisch. Sie können jedoch in bestimmten Umgebungen Silbengipfel bilden. Im Englischen,
z.B., sind Liquide und Nasale nach Konsonanten in Wortern wie riddle, rhythm, written,
bacon silbisch. Wir finden sogar Oppositionen wie coddling (mit
silbischem /l/ aus coddle) und codling (mit unsilbischem /l/,
aus cod + ling "kleiner Kabeljau").
Obgleich Vokale, Liquide, Nasale, und Gleitlaute in manchen Sprachen stimmlos sein
können, ist Stimmhaftigkeit ihre naturgemäße Eigenschaft. Es gibt keine Sprache,
die stimmlose Vokale, Liquide, Nasale, oder Gleitlaute hat, es sei denn sie hat
auch die stimmhaften Gegenstücke. Mit anderen Worten, stimmlose Vokale setzen die
Existenz von stimmhaften Vokalen voraus. Laute, für die dies zutrifft, heißen Sonoranten,
im Gegensatz zu Obstruenten.
|
silbisch
|
sonorant
|
konsonantisch
|
Vokale
|
+
|
+
|
−
|
Gleitlaute
|
−
|
+
|
−
|
Liquide
|
−
|
+
|
+
|
Nasale
|
− |
+
|
+
|
Obstruenten
|
−
|
−
|
+
|
Tab. 9.1. Oberklassen-Merkmale
Während Liquide und Nasale unter Umständen silbisch sein können (sie bleiben dabei
von den Vokalen und Obstruenten verschieden) können Gleitlaute per definitionem
nicht silbisch sein, denn silbische Gleitlaute sind nichts anderes als Vokale.
9.1.3 Resonanz-Merkmale: Koronal und Anterior
Im traditionellen Klassifikationssystem werden zur Charakterisierung der Artikulation
von Konsonanten einserseits und von Vokalen andererseits verschiedene Merkmale verwendet. Vokalartikulationen
werden mithilfe der Merkmale "vorne–hinten" und "noch–niedrig"
beschrieben, während Konsonantenartikulationen mithilfe eines mehrwertigen Parameters
charakterisiert werden, der sich auf die Lokalisierung einer Enge im Lautgang bezieht.
Chomsky & Halle versuchen eine einheitliche Charakterisierung sowohl der Vokale
als auch der Konsonanten zu erreichen. Zunächst wird mithilfe der Merkmale "koronal-nicht-koronal"
und "anterior-nicht-anterior" eine vierfache Unterteilung vorgenommen. Koronal wird wie folgt definiert (cf. Abb. 9.1.):
Definition 9.1. koronal
Koronale Laute werden durch eine Anhebung des Zungenkranzes (lat. corna,
d.h. Zungenspitze bzw. Zungenblatt) über die seine neutrale Stellung hinaus gebildet;
bei nicht-koronalen Lauten befindet sich der Zungenkranz in der neutralen Stellung.
Abb. 9.1. Resonanzmerkmale
(Ladefoged 1971:101)
Die sog. dentalen, alveolaren, und palato-alveolaren Konsonanten sind koronal, ebenso
wie die apikal oder laminal artikulierten Liquide. Konsonanten, die mit den Lippen
oder mit dem Zungenrücken artikuliert werden, sind nicht-koronal. Die Gleitlaute
/j/ und /w/ sind demnach nicht-koronal. Retroflexe Laute sind koronal.
[+koronal] = {θ, ð, t, d, n, s, z, l, r, ʃ, ʒ, tʃ, dʒ}
[−koronal] = {p, b, f, v, m, j, w, k, g, ʒ} ∪
Vokale
Definition 9.2. anterior
Laute mit einem Hindernis vor der palato-alveolaren Zone sind anterior. Alle anderen
sind nicht-anterior.
[+anterior]: {p, b, m, f, v, θ, ð, t, d, n, l, r, s, z}
[−anterior]: {ʃ, ʒ, tʃ, dʒ, k, g, ŋ, j, w, h, ʔ}
∪ Vokale
9.1.4 Zungenrücken-Merkmale
Eine weitere Verfeinerung wird durch die Zungenrücken-Merkmale"hoch–nicht-hoch",
"niedrig–nicht-niedrig", und "hinten–nicht-hinten"
erziehlt, welche jetzt Konsonanten mit den Vokalen teilen.
Definition 9.3. hoch
Laute, die durch Anheben des Zungenrückens über die neutrale Stellung hinaus gebildet
werden, heißen hoch. Bei nicht-hohen Lauten findet keine derartige Anhebung statt.
[+hoch]: {ʃ, ʒ, tʃ, dʒ, j, k, g, ŋ}
Definition 9.4. niedrig
Niedrige Laute werden durch Absenken des Zungenrückens unterhalb der Zungenhöhe
der neutralen Stellung gebildet. Nicht-niederige Laute werden ohne eine derartige
Senkung gebildet.
Es ist offensichtlich, daß Laute nicht gleichzeitig [+hoch] and [+niedrig] sein
können. Es gibt demnach bestimmte Restriktionen für die Kombination von Merkmalen.
|
anterior
|
koronal
|
hoch
|
hinten
|
niedrig
|
bilabial
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
labio-dental
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
dental
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
alveolar
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
palato-alveolar
|
−
|
+
|
+
|
−
|
−
|
palatal
|
−
|
−
|
+
|
−
|
−
|
velar
|
−
|
−
|
+
|
+
|
−
|
uvular
|
−
|
−
|
−
|
+
|
−
|
pharyngal
|
−
|
−
|
−
|
+
|
+
|
glottal
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
Tab. 9.2. Artikulationsstellen
Definition 9.5. hinten
Hintere Laute werden dadurch gebildet, daß der Zungenrücken im Vergleich zur neutralen
Stellung zurückgezogen ist.
[+hinten]: {k, g, ŋ}
Der Zusammenhang zwischen den traditionellen Artikulationsstellen und dem binären
Merkmalsystem von Chomsky & Halle ist in Tabelle 9.2 zu sehen.
9.2 Phonologische Repräsentation
Im vorliegenden Rahmen kann die phonologische Repräsentation eines Ausdrucks durch
eine zweididmensional Matrix dargestellt werden, in der die Reihen für bestimmte
phonetische Merkmale stehen, die Spalten aufeinanderfolgende phonetische Segmente
repräsentieren, und die Einträge in der Matrix die Position des Wertes auf der jeweiligen
phonetischen Skala angeben. Der Ausdruck [spin], z.B., kann durch die folgende Merkmalsmatrix
dargestellt werden
|
s
|
p
|
i
|
n
|
silbisch
|
−
|
−
|
+
|
−
|
sonorant
|
−
|
−
|
+
|
+
|
konsonantisch
|
+
|
+
|
−
|
+
|
koronal
|
+
|
−
|
−
|
+
|
anterior
|
+
|
+
|
−
|
+
|
hoch
|
−
|
−
|
+
|
−
|
niedrig
|
−
|
−
|
−
|
−
|
hinten
|
−
|
−
|
−
|
−
|
nasal
|
−
|
−
|
−
|
+
|
lateral
|
−
|
−
|
−
|
−
|
rund
|
−
|
−
|
−
|
−
|
verschlossen
|
−
|
+
|
+
|
+
|
fortis
|
+
|
+
|
−
|
−
|
stimmhaft
|
−
|
−
|
+
|
+
|
sibilant
|
+
|
−
|
−
|
−
|
Tab. 9.3. Merkmalsmatrix
|
m
|
n
|
ŋ
|
p
|
t
|
tʃ
|
k
|
b
|
d
|
dʒ
|
g
|
f
|
θ
|
s
|
ʃ
|
ʍ
|
h
|
v
|
ð
|
z
|
ʒ
|
l
|
r
|
w
|
j
|
kons
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
−
|
−
|
sonor
|
+
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
+
|
+
|
+
|
+
|
verschl
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
–
|
–
|
–
|
–
|
–
|
–
|
–
|
–
|
–
|
–
|
–
|
–
|
–
|
–
|
kor
|
−
|
+
|
−
|
−
|
+
|
+
|
−
|
− |
+
|
+
|
− |
−
|
+
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
−
|
−
|
ant
|
+
|
+
|
−
|
+
|
+
|
−
|
−
|
+
|
+
|
−
|
−
|
+
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
+
|
+
|
+
|
−
|
+
|
+
|
−
|
−
|
hoch
|
−
|
−
|
+
|
−
|
−
|
+
|
+
|
−
|
−
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
+
|
−
|
−
|
+
|
+
|
niedrig
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
hinten
|
−
|
−
|
+
|
−
|
−
|
−
|
+
|
−
|
−
|
−
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
+
|
−
|
fortis
|
−
|
−
|
−
|
+
|
+
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
+
|
+
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
sth
|
+
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
+
|
+
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
+
|
sibilant
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
+
|
−
|
−
|
−
|
+
|
−
|
−
|
−
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
nasal
|
+
|
+
|
+
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
lateral
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
−
|
+
|
−
|
−
|
−
|