8 Vokale

8.1. Vokale und Konsonanten

Vokale und Konsonanten

Abb. 8.1 (nach Catford 1977)

Das traditionelle phonetische Beschreibungssystem, das auf der Unterscheidung von Artikulationsart und Artikulationsstelle aufbaut, ist für die Charakterisierung von Konsonanten ausreichend. Wenn wir jedoch Vokalartikulationen auf die gleiche Weise beschreiben wollen, geraten wir in Schwierigkeiten.

Wir klassifizieren Laute nach der Art des Hindernisses (ihrer Artikulationsweise) und der Lokalisierung des Hindernisses im Lautgang (Artikulationsstelle). Bei den meisten Konsonanten läuft dies auf eine Beschreibung unter Bezug auf Zonen der Annäherung zwischen dem Zungenrücken und dem Munddach und auf den Grad der Annäherung der beteiligten Artikulatoren (vgl. Abb. 8.1.) hinaus.

Bei Vokalen bezieht man sich eher auf die Gestalt und die Lage der Zunge Mundraum. Zusätzlich wird noch die jeweilige Stellung der Lippen berücksichtigt, d.h. ob diese gespreizt, neutral oder gerundet sind.

Mit anderen Worten, man bezieht sich bei der Beschreibung von Konsonanten auf die Lage der engsten Annäherung zweier Artikulatoren, bei Vokalen jedoch auf die 'absolute' Zungenhöhe und die Lage dieses ‘höchsten Punktes’, gleichgültig ob dies auch die Lage der engsten Annäherung ist.

Parameter

Abb. 8.2

Vokale sind zentrale (d.h. nicht-laterale) Approximanten oder Resonanten mit einer Verengung zwischen dem Zungenrücken und dem Munddach, oder der Zungenwurzel und der Rachenrückwand. Dies gilt auch für die Halbvokale /j/ und /w/, welche den gleichenVerengungsgrad und die gleiche Artikulationsstelle wie die Vokale /i/ und /u/ aufweisen. Entsprechende Vokale und Halbvokale unterscheiden sich darin, daß erstere eine deutlich feststellbare Dauer haben, während letztere im wesentlichen durch eine schnelle Gleitbewegung hin zu einer Approximanten-Stellung oder von ihr weg gebildet werden. Vokale sind "prolongierbar", Halbvokale sind momentan.

 

Gleitlaut vs. Vokal

Abb. 8.3. Gleitlaut vs. Vokal

Das traditionelle System der Vokalklassifikation basiert auf drei Parametern:

1. Vertikale Zungenstellung: hoch – niedrig
2. Horizontale Zungenstellung: vorder – hinter
3. Lippenstellung: gespreizt – gerundet

Tab. 8.1. Parameter der Vokalklassifikation

Daniel Jones

Daniel Jones

>Ein derartiges System mag für Zwecke der Klassifikation ausreichend sein. Es ist jedoch unzureichend für ein Beschreibungssystem, wenn die Beschreibungen auch als Anleitung zur Lautproduktion dienen sollen. Das Problem ist wiederum, daß die genannten Parameter Kontinua bilden und wir aufgrund der großen Öffnung keine deutlich lokalisierbaren taktilen Empfindungen haben. Durch Übung kann man jedoch ein Gefühl für die ungefähre Gestalt und Lage der Zunge bei der Bildung eines bestimmten Vokals im Vergleich zu einem anderen erwerben. Man kann beispielsweise fühlen, daß bei der Bildung des Vokals in dem englischen Wort peel die Zunge etwas höher und weiter vorn liegt als beim Vokal in pill. Was wir benötigen, ist ein allgemeines Bezugssystem, das sich diese Fähigkeit zunutze macht, ein System festgelegter Vokalartikulationen, in Relation zu welchen die Artikulation eines bestimmten Vokals beschrieben werden kann.

8.2. Kardinalvokale

Vokalgrenze

Abb. 8.4.

Das Beschreibungssystem, das sich in der bisherigen Praxis am besten bewährt hat, ist das System der Kardinalvokale (aus lat. cardo-, inis ‘Türangel’), das um die Zeit des ersten Weltkrieges von dem britischen Phonetiker Daniel Jones entwickelt und von der International Phonetic Association übernommen wurde.

Im System von Jones gibt es acht primäre Kardinalvokale. Dabei handelt es sich nicht um in irgendeiner Sprache vorkommende Laute (obwohl dies nicht ausgeschlossen ist). Vielmehr gründen sie sich auf der Theorie einer Vokalgrenze im Mundraum mit einer Peripherie, außerhalb derer keine Vokallaute hervorgebracht werden können. Die Zungenstellung jedes überhaupt möglichen Vokals, d.h. die Lage des am höchsten liegenden Teils der Zunge, befindet sich entweder auf der Peripherie oder in dem durch diese eingeschlossenen Vokalraum. Es unmöglich, den höchsten Punkt des Zungenrückens über eine bestimmte Stellung hinaus nach vorne oder nach unten zu verlagern. Wenn zudem die Zunge über eine bestimmte Grenze hinweg angehoben wird geht der Laut in einen Reibelaut über. Wenn die Zunge in der tiefsten Stellung zu weit nach hinten verschoben wird, so daß der Abstand zur Rachenwand verkleinert wird, erhalten wir ebenfalls keinen Vokal mehr. Die Vokalgrenze wird durch diese Restriktionen konstituiert.


Kardinalvokale Kardinalvokale

Die acht Kardinalvokale, die als Bezugspunkte für die Beschreibung aller anderen Vokale gedacht sind, sind so konzipiert, daß sie ihre höchste Zungenstellung auf der Peripherie des Vokalraums haben. Zwei davon befinden sich in leicht erfühlbaren Positionen: es handelt sich um K[ardinal] V[okal] 1 /i/, und KV 5 /ɑ/. KV 1 /i/ wird mit der vordersten und höchsten möglichen Zungenstellung gebildet. KV 5 /ɑ/ ist der niedrigste (offenste) und hinterste mögliche Vokal.

Die dazwischen liegenden Kardinalvokale 2, 3, 4 liegen auf der Peripherie des Vokalraumes zwischen KV /i/ und KV /ɑ/, und zwar mit auditiv ungefähr gleich großen Abständen. Sie werden mit den Symbolen /e ɛ a/ wiedergegeben. Die ersten fünf Kardinalvokale bilden somit eine Skala aus scheinbar äquidistanten Vokallauten, die vom vom höchsten und vordersten bis zum niedrigsten und hintersten Vokal reicht: /ieɛaɑ/. Die Kardinalvokale 6 bis 8 setzen diese Reihe äquidistanter Laute von /ɑ/ aus bis zu einem ganz geschlossenen, vollständig gerundeten hinteren /u/ nach oben fort: ɔou/.

Der Vokalraum, d.h. der Bereich möglicher Vokalartikulationen im Mundraum, wird üblicherweise in idealisierter Form in Gestalt eines Trapezes wie in Abb. 8.5. dargestellt. Die Vokalpositionen sind durch einen Punkt oder Kreis markiert, wobei die Punkte für ungerundete, die Kreise für gerundete Vokale stehen. Für die Kardinalvokale gilt, daß die vorderen Vokale mit mehr oder weniger gespreizten Lippen gesprochen werden, die hinteren Vokale mit mehr oder weniger grundeten Lippen (s. Abb. 8.6.)

Primäre Kardinalvokale

Abb. 8.5. Die Primären Kardinalvokale

Lippenstellungen der Kardinalvokale

Abb. 8.6. Schematische Darstellungen der Lippenstellungen der Kardinalvokale
(Catford 1988: 146)

Zusätzlich zu den acht primären Kardinalvokalen gibt es Sekundäre Kardinalvokale. Acht davon sind unmittelbar aus den primären Kardinalvokalen durch Umkehrung der Lippenstellungen abgeleitet. Ihre Zungenstellung ist jeweils mit der der entsprechenden primären Vokale identisch, nur wo der primäre KV ungerundet ist, ist der sekundäre gerundet und umgekehrt.

Die Vokale des Englischen

Abb. 8.7. Sekundäre Kardinalvokale

8.3 Die Vokale des Englischen

Mit dem Bezugsrahmen der Kardinalvokale können nun die Vokale spezifischer Sprachen relativ zu diesem System beschrieben werden, wobei zu brücksichtigen ist, daß es für einzelne Vokalartikulationen in Abhängigkeit von Variablen wie Alter (Generationszugehörigkeit), Dialekt, Soziolekt etc. eine nicht unerhebliche Streubreite geben kann. Insofern stellt die folgende Beschreibung für das Englische eine Idealisierung dar.

8.3.1. Vokale

Der Englische Vokal /iː / wie in beat ist etwas niedriger und etwas zentraler als KV /i/. Der Vokal /ɪ/ wie in bit ist fast so offen wie KV /e/ und ziemlich zentralisiert. Der Vokal /e/ wie in bet liegt auf der Peripherie zwischen KV /e/ und KV /ɛ/. Er liegt meist näher an KV /e/ als an KV /ɛ/. Der Vokal /æ/ wie in bat liegt zwischen KV /ɛ/ und KV /a/, aber näher an KV /ɛ/. Das kurze /ʌ/ in but hat die Qualität eines zentralisierten und leicht angehobenen KV /a/. Konservative Sprecher verwenden einen weiter hinten liegenden Vokal, d.h. eine ungerundete und zentralisierte Abart von KV /ɔ/. Das /ɑː/ in part liegt zwischen KV /a/ und KV /ɑ/, und zwar etwas näher an KV /ɑ/. Das /ɒ/ in pot hat die Qualität eines etwas angehobenen sekundären KV /ɒ/. Das /ɔː/ in port liegt zwischen KV /ɔ/ und KV /o/. Der Vokal /ʊ/ wie in put ist das hintere Gegenstück zum vorderen Vokal /ɪ/. Er ist fast so offen wie KV /o/ und deutlich zentralisiert. Das /uː/ in boot hat die Qualität eines leicht gesenkten und zentralisierten KV /u/. Der Vokal /ɜː/ wie in bird unterscheidet sich von allen peripheren Kardinalvokalen. Bei seiner Artikulation, wird der mittlere Zungenrücken zu einer Stellung zwischen halb offen und halb geschlossen angehoben. Die Qualität des /ɜ/ fällt oft mit der des unbetonten /ə/ zusammen.

 Die Vokale des Englischen

Abb. 8.8. Die Vokale des Englischen

8.3.2. Diphthonge

Diphthonge sind Gleitbewegungen von einer Vokalposition zu einer anderen. Im Englischen gibt es zwei Diphthongtypen, schließende (engl. closing) Diphthonge mit einer Bewegung von einer offeneren Position in Richtung auf eine geschlossenere Stellung: /eɪ ɔɪɑʊəʊ/ (came [keɪm], time [taɪm], boy [bɔɪ], house [hɑʊs], home [həʊm]) und zentrierende (engl. centring) Diphthonge mit einer Bewegung von der Peripherie in Richtung auf das Zentrum: /ɪəʊəɛə/ (beer [bɪə], poor [pʊə], pair [pɛə]).

Schließende Diphthonge

Abb. 8.9. Schließende Diphthonge

 

Zentrierende Diphthonge

Abb. 8.10. Zentrierende Diphthonge

 

8.4 Die Vokale des Deutschen

Vokalkarte des Deutschen

Abb. 8.11. Vokalkarte des Deutschen

Deutsche Diphthonge

Abb. 8.12. Diphthonge des Deutschen