Kapitel 2. Allgemeine Grundbegriffe
  
    
        2.1. Vorbemerkung
    
    
        In dem Maße wie die Linguistik versucht eine exakte Wissenschaft zu sein,
        erhalten Aussagen über ihre Gegenstände die Form von Theorien. Dabei müssen
        grundsätzlich drei Aspekte unterschieden werden:
    
    
        - Der Objektbereich, der durch eine Theorie erklärt oder durch ein Modell modelliert
            werden soll. Dieser ist immer schon im Sinne eines Formalobjektes
            (vgl. Kapitel 1.) zu verstehen. 
 
        - Die Theorie selbst, die den Objektbereich beschreibt und erklärt. Der gleiche
            Objektbereich kann durch unterschiedliche Theorien erklärt werden. 
 
        - Die Sprache, in der eine Theorie ausgedrückt wird. Die gleiche Theorie kann
            gegebenenfalls durch unterschiedliche Sprachen ausgedrückt werden. Ausdrücke
            aus verschiedenen Sprachen sind dann ineinander übersetzbar. 
 
    
    
        Eine Theorie sollte zunächst in (gegebenenfalls terminologisch angereicherter)
        Alltagssprache ausdrückbar sein. Es hat sich jedoch als vorteilhaft erwiesen,
        in den Wissenschaften eine spezielle Wissenschaftssprache zu verwenden. Darüber
        wird ausführlicher in Abschnitt 2.3. die
        Rede sein.
    
    
        2.2. Theorie und Theoriebildung 
    
    
        In den folgenden Abschnitten sollen zunächst kurz Begriffe wie 
            Theorie, Hypothese, theoretisches
                Konstrukt erläutert werden.
    
    
        Definition 2.1. Theorie
    
    
        Eine Theorie ist ein System von Hypothesen oder eine Menge von solchen Systemen,
        die zur Erklärung bestimmter Phänomenenbereiche entwickelt werden.
    
    
        Definition 2.2. Hypothese
    
    
        Eine Hypothese ist eine empirische Verallgemeinerung über einer Menge von Beobachtungsdaten.
    
    
        Wir können zumindest vier Phasen der Theoriebildung unterscheiden.
    
    
        - Sammlung und Beschreibung von empirischen Daten 
 
        - Hypothesenbildung 
 
        - Theoriebildung 
 
        - Überprüfung 
 
    
    
        PHASE 1
    
    
        Beobachtungen über bestimmte Phänomene (Daten) werden gesammelt, beschrieben
        und klassifiziert. So können wir z.B. beobachten, daß bestimmte Holzgegenstände
        in Wasser schwimmen, während bestimmte (feste) Metallgegenstände untergehen.
        Zum Zwecke der Beschreibung und Klassifizierung von Beobachtungsdaten werden Beschreibungssprachen
        geschaffen (z.B. das phonetische Alphabet und die Terminologie der artikulatorischen
        Phonetik). Das Resultat der Phase 1 ist eine Beschreibung und Klassifizierung einer
        Menge von Beobachtungsdaten.
    
    
        PHASE 2
    
    
        Auf der Grundlage einer Sammlung von beschriebenen und klassifizierten Beobachtungsdaten
        können wir versuchen Hypothesen zu bilden, wobei eine Hypothese eine empirische
        Verallgemeinerung über die beobachteten Daten ist. Um bei unserem Beispiel
        zu bleiben: Nachdem wir in einer großen Anzahl von Fällen festgestellt
        haben, daß feste Holzgegenstände in Wasser schwimmen, während feste
        Metallgegenstände untergehen, bilden wir die Hypothesen "Alle festen Holzgegenstände
        schwimmen in Wasser" und "Alle festen Metallgegenstände gehen in
        Wasser unter". Wir sehen jedoch noch keinen Zusammenhang zwischen diesen Hypothesen.
    
    
        PHASE 3
    
    
        Das grundlegende Ziel der Theoriebildung ist es, verschiedene Hypothesen durch allgemeine
        Prinzipien miteinander in Beziehung zu setzen, und so eine Erklärung für
        die gemachten Beobachtungen zu erhalten. Diese zur Erklärung herangezogenen
        Prinzipien werden theoretische Konstrukte genannt. In unserem
        Beispiel wird das unterschiedliche Verhalten von hölzernen und metallischen
        Gegenständen durch das gleiche allgemeine Prinzip, das wir spezifisches Gewicht
        nennen, erklärt. Das spezifische Gewicht ist die relative Dichte einer Substanz,
        d.h. das Verhältnis der Dichte einer Substanz und der einer Vergleichssubstanz
        (normalerweise Wasser).
    
    
        Definition 2.3. Theoretisches Konstrukt
    
    
        Ein theoretisches Konstrukt ist ein konstruierter, theoretischer oder theoriegebundener
        Begriff, der nur indirekte empirische Bezüge hat. Systeme von Konstrukten
        ergeben Theorien im Sinne begrifflicher Netze über einem Gegenstandsbereich.
        Linguistische Konstrukte sind Struktur, System, Phonem, Kompetenz, usw.
    
    
        Mit dem Begriff bzw. theoretischen Konstrukt des spezifischen Gewichtes können
        nun die beiden Hypothesen
    
    
        - Alle Holzgegenstände schwimmen in Wasser 
 
        - Alle festen Metallgegenstände gehen in Wasser unter 
 
    
    
        auf sehr allgemeine Weise miteinander in Beziehung gebracht werden:
    
    
        Alle festen Körper, deren spezifisches Gewicht kleiner ist als das einer bestimmten
        Flüssigkeit, schwimmen in dieser Flüssigkeit.
    
    
        PHASE 4
    
    
        Die Überprüfung von Theorien. Theorien werden überprüft, indem
        man sie zu falsifizieren versucht. Der Wissenschaftler versucht Fälle zu finden,
        die durch die Theorie nicht erklärt werden oder im Widerspruch zu den Vorhersagen
        der Theorie stehen. Eine Theorie ist gültig solange sie nicht falsifiziert
        worden ist. In unserem Beispiel kann die Hypothese, daß alle festen Metallgegenstände
        in Wasser untergehen, durch die Beobachtung falsifiziert werden, daß Natrium
        in Wasser schwimmt. Es handelt sich hier jedoch um eine Falsifizierung der ursprünglichen
        Hypothese "alle Metallgegenstände gehen unter", aber nicht der Theorie.
        Denn mit dem theoretischen Konstrukt des spezifischen Gewichts wird auch das Verhalten
        von Natrium erklärt, dessen spezifisches Gewicht (0.97) kleiner als das von
        Wasser (1.00) ist.
    
    
         2.3. Wissenschaftssprache 
    
    
        Eine Theorie muß sprachlich ausgedrückt werden. Dies kann prinzipiell
        mithilfe der Alltagssprache geschehen. Damit sind jedoch
        eine Reihe von Schwierigkeiten verbunden, die dazu geführt haben, daß
        zur Formulierung von wissenschaftlichen Theorien eine eigene Wissenschaftssprache
        entwickelt worden ist.
    
    
    
        Definition 2.4. Wissenschaftssprache
    
    
        Die "Gesamtheit der sprachlichen Mittel einer Wissenschaft mit den Regeln für
        deren Gebrauch" (Klaus/Buhr 1971, sv. Wissenschaftssprache) nennt man Wissenschaftssprache.
    
    
        Die Grundlage einer Wissenschaftssprache ist immer die Alltagssprache. Gerade die
        Eigenschaften der Alltagssprache, die ihre Flexibilität als Kommunikationsmittel
        ausmachen, machen sie als Wissenschaftssprache jedoch ungeeignet: viele Wörter
        der Alltagssprache sind mehrdeutig, ihre Bedeutung ist oft unscharf; die Alltagssprache
        enthält Synonyme etc. Die Begriffe der Wissenschaftssprache müssen jedoch
        eindeutig und genau sein. Die Wissenschaftssprache versucht diese Nachteile
        der Alltagssprache zu überwinden, indem sie eine spezielle Terminologie verwendet,
        die für die jeweilige Wissenschaft genau definierte Begriffe bezeichnet. Durch
        eine solche Terminologie wird neben der Eindeutigkeit auch eine kürzere und
        damit übersichtlichere Ausdrucksweise möglich.
    
    
    
        Definition< 2.5. Theoretische Begriffe
    
    
        Begriffe, die sich auf den von einer Theorie beschriebenen Gegenstand beziehen,
        und die somit unmittelbare Bestandteil der Theorie sind, werden theoretische Begriffe
        genannt.
    
    
        Theoretische Begriffe der Sprachtheorie sind z.B.: Satz, Wort, Relativpronomen, Phonem
        etc. Daneben sind auch Begriffe erforderlich, die Eigenschaften der Theorie selbst
        erfassen, mit denen man also über Theorien spricht.
    
    
        Definition 2.6. Metatheoretische Begriffe
    
    
        Begriffe mit denen man über Eigenschaften von Theorien spricht werden metatheoretische
        Begriffe genannt.
    
    
        Metatheoretische Begriffe der Sprachtheorie sind z.B.: Transformationsregel, Strukturbeschreibung,
            Regelschema, Symbolkette, grammatische Kategorie etc.
    
    
    
        Die Wissenschaftssprache ist die Sprache, mit der eine Wissenschaft über ihre
        Gegenstände spricht. Betrachten wir zunächst die Verwendung der Wissenschaftssprache
        durch den Nicht-Linguisten.
    
    
        Der Chemiker, z.B., verwendet Sprache um über Gegenstände zu sprechen,
        die keine Sprache sind. Die Sprache, die er dazu verwendet, unterscheidet sich jedoch
        von der Alltagssprache. Es ist eine besondere Sprache mit einem speziellen Vokabular,
        einer Terminologie. Es ist ein Teil der Sprache, die wir Wissenschaftssprache genannt
        haben. Nehmen wir folgendes Beispiel:
    
    
        (2.1.)  Natriumchlorid ist ein Salz
    
    
        Natriumchlorid ist ein chemischer Terminus, den wir in der Alltagssprache
        nicht verwenden. In einem Spezialwörterbuch würden wir als Bedeutung Salz
        finden. Was passiert jedoch, wenn wir im Beispiel Natriumchlorid durch Salz
        ersetzen?
    
    
        (2.2.)  Salz ist ein Salz.
    
    
        Das ist etwas seltsam.
    
    
        Für den Chemiker hat das Wort Salz eine besondere und allgemeinere Bedeutung.
    
    
        (2.3.)  Salz ist eine Substanz, die durch die Reaktion einer Säure
        mit einer Base entsteht.
    
    
        Noch genauer könnte diese Aussage wie folgt formuliert werden:
    
    
        (2.4.)  In der Chemie wird das Wort Salz zur Bezeichnung jeder
        Substanz verwendet, die durch die Reaktion einer Säure mit einer Base entsteht.
    
    
        Damit sollte deutlich geworden sein, daß auch der Nicht-Linguist Sprache in
        zweierlei Funktionen verwendet. Er verwendet Sprache, um über Gegenstände
        zu sprechen, die selbst nicht Sprache sind. Die Sprache, die er zu diesem Zweck
        verwendet wird Objektsprache genannt.
    
    
        Definition 2.7. Objektsprache
    
    
        Der Teil der Wissenschaftssprache, mit der man über nicht-sprachliche Gegenstände
        einer Wissenschaft spricht, wird Objektsprache genannt.
    
    
        Der Wissenschaftler verwendet Sprache jedoch auch, um über Sprache zu sprechen,
        z.B. über die Objektsprache seiner Wissenschaft. Das kann notwendig sein, um
        z.B. die Bedeutung eines bestimmten Terminus zu definieren, wie im obigen Beispiel.
    
    
        Definition 2.8. Metasprache
    
    
        Jede Sprache mit der über eine Sprache gesprochen wird, ist eine Metasprache
    
    
        Da eine Metasprache selbst wieder eine Sprache ist, kann man sich auch eine Metasprache
        zu dieser Sprache vorstellen, eine Meta-Metasprache, so daß wir eine ganze
        Hierarchie mit mehreren metasprachlichen Ebenen erhalten:
    
    
        
            | 
                Metasprache der n-ten Stufe
             | 
        
        
            | 
                ∶
             | 
        
        
            
                Metasprache der 2. Stufe 
                (Meta-Metasprache)
             | 
        
        
            | 
                ¯
             | 
        
        
            | 
                Metasprache der 1. Stufe
             | 
        
        
            | 
                ¯
             | 
        
        
            | 
                Objektsprache
             | 
        
        
            | 
                ¯
             | 
        
        
            | 
                nichtsprachliche Objekte
             | 
        
    
    
        Abb. 2.1. Objektsprache und Metasprachen
    
    
        Eine Metasprache der ersten Stufe ist durch folgende Eigenschaften charakterisiert:
    
    
        - Alles was in der Objektsprache ausgedrückt werden kann, kann auch in der zugeordneten
            Metasprache ausgedrückt werden. Eine Metasprache muß so ausdrucksfähig
            sein, daß sich alle Ausdrücke ihrer Objektsprache in sie übersetzen
            lassen. 
 
        - Mittels der Metasprache kann man alle Ausdrücke der Objektsprache bezeichnen;
            das bedeutet: Man hat Namen für sie (Namenmetasprache). 
 
        - Man kann in der Metasprache über alle Beschaffenheiten ihrer Objektsprache
            sprechen. 
 
        - Man kann in der Metasprache Regeln für den Gebrauch der Objektsprache fomulieren.
            Z.B. kann man den Gebrauch objektsprachlicher Termini durch Definitionen semantisch
            regeln. 
 
    
    
        Für die Objektsprache gilt u.a. folgendes:
    
    
        - Ist die Objektsprache eine wissenschaftliche Fachsprache, ist zumindest der Gebrauch
            der Termini durch die zugehörige Metasprache semantisch geregelt. 
 
        - Die Objektsprache ist nicht selbst-rückbezüglich, d.h. in der Objektsprache
            sind keine Aussagen über die Objektsprache selbst erlaubt. 
 
    
    
        Die Linguistik unterscheidet sich von anderen Wissenschaften u.a. darin, daß
        ihr Objekt die Alltagssprache ist. Genau betrachtet hat die Linguistik daher keine
        Objektsprache im definierten Sinn. Die Wissenschaftssprache der Linguistik ist daher
        immer schon eine Metasprache. Wenn wir sagen: Peter hat zwei Silben, wollen
        wir nicht über irgendeine Person sprechen, sondern über das Wort Peter.
        Es handelt sich also um einen metasprachlichen Ausdruck. Das Wort Silbe bezeichnet
        einen theoretischen Begriff und ist ebenfalls ein metasprachlicher Ausdruck.
    
    
        Die Alltagssprache wird normalerweise verwendet um über nichtsprachliche Gegenstände
        zu sprechen und fungiert dann als Objektsprache. Sie kann jedoch auch reflexiv verwendet
        werden und fungiert dann als Metasprache. In der Alltagssprache kommen also sowohl
        objektsprachliche als auch metasprachliche Ausdrücke vor. Der Ausdruck
        Dieses Wort möchte ich nicht noch einmal hören ist sicher ein Ausdruck
        der Alltagssprache. Gleichzeitig ist das Wort Wort ein metasprachlicher Ausdruck.
        Um dieser besonderen Situation gerecht zu werden, soll der Begriff linguistischen
        Objektsprache eingeführt werden:
    
    
        Definition 2.9. Linguistische Objektsprache
    
    
        In der Linguistik bezeichnet der Begriff Objektsprache eine natürliche Sprache
        wenn sie selbst Gegenstand der Untersuchung ist. Die linguistische Objektsprache
        ist reflexiv, d.h. sie kann metasprachliche Ausdrücke enthalten.
    
    
        Angesichts der wichtigen Rolle, welche Sprache im menschlichen Leben spielt, ist
        es keineswegs überraschend, daß die Alltagssprache eine Reihe von
        Ausdrücken enthält, die sich auf sprachliche Gegenstände beziehen,
        z.B. Satz, Wort, Laut, Buchstabe usw. Man vergleiche die folgenden Beispiele:
    
    
        (2.5.)  (a) Hans ist ein Narr
      (b) Hans ist ein Nomen
        (c) Hans ist einsilbig
    
    
        (2.6.)  (a) Sätze bestehen aus Wörtern
        (b) Sätze besteht aus 5 Buchstaben
  
    
        (2.7.)  Was Hans zu dem Mann im Garten gesagt hat ist zweideutig.
    
    
        Der Satz Hans ist ein Narr ist ein normaler objektsprachlicher Ausdruck,
        mit dem eine Aussage über eine Person namens Hans gemacht wird. Der Satz Hans
            ist ein Nomen hingegen macht nur Sinn, wenn Hans sich nicht auf irgendein
        Individuum bezieht, sondern auf das Wort Hans selbst. Es handelt sich um
        eine metalinguistische Aussage über das deutsche Wort Hans als Wort.
        Man kann auch sagen, daß im ersten Fall das Wort Hans ‘gebraucht’
        wird während es im zweiten Fall ‘erwähnt’ wird.
    
    
        Wird ein Ausdruck erwähnt, fungiert er als Name für sich selbst.
    
    
        
            
  
    
        Abb. 2.2. Objekt- und Metasprache in Naturwissenschaft und Linguistik
    
    
        Definition 2.10. Name
    
    
        Ein Name ist ein metasprachlicher Ausdruck, der sich auf einen sprachlichen Ausdruck
        bezieht, z.B. um darüber eine linguistische Aussage zu machen.
    
    
        Der unterschiedliche Status von Hans in den beiden Sätzen kann durch
        typographische Konventionen wie Anführungszeichen oder Kursivschrift verdeutlicht
        werden:
    
    
        (2.8.)  Hans ist ein Nomen. Hans
 ist ein Nomen.
    
    
        Erwähnung kann rekursiv sein.
    
    
        (2.9.)   Das Subjekt von Hans
 ist ein Nomen ist "Hans".
    
    
        Vergleiche dazu auch folgendes Beispiel aus Carnap';s Buch The Logical Syntax
            of Language (Carnap 1959: 156f.):
    
    
        - ω ist eine Ordnungszahl; 
 
        ω
 ist keine Ordnungszahl, sondern ein griechischer Buchstabe;
         
        - Omega ist ein griechischer Buchstabe; 
 
        Omega
 ist kein griechischer Buchstabe, sondern ein Wort, welches aus 5
            Buchstaben besteht;  
    
    
        Im Satz (4) wird nicht über Omega gesprochen, also nicht über ω
,
        sondern über Omega
. An Subjektstelle steht in (4) also nicht Omega
        wie in Satz (3), sondern vielmehr "Omega".
    
    
        Das Wort Nomen ist ebenfalls ein metalinguistischer Ausdruck. Es ist ein
        Fachterminus, der einen theoretischen Begriff bezeichnet.
    
    
        Definition 2.11. Linguistischer Terminus
    
    
        Ein linguistischer Terminus ist ein metasprachlicher Ausdruck, dem ein linguistischer
        Allgemeinbegriff durch Definition fest zugeordnet ist.
    
    
        Der jeweilige begriffliche Inhalt linguistischer Termini muß möglichst
        genau festgelegt werden. Dies kann durch Definitionen geschehen, durch welche die
        einzelnen Begriffe voneinander abgegrenzt werden. Die einzelnen Begriffe erhalten
        so einen festen Stellenwert im Rahmen eines zusammenhängenden Begriffssystems.
    
    
        Definition 2.12. Definition
    
    
        Unter einer Definition versteht man die genaue Abgrenzung eines Begriffes innerhalb
        eines größeren Zusammenhanges unter Verwendung anderer Begriffe (explizite
        Definition).
    
    
        Definition 2.13. Definiendum
    
    
        Der zu definierende Begriff heißt Definiendum (lat. das zu Definierende
).
    
    
        Definition 2.14. Definiens
    
    
        Der Begriff oder Begriffskomplex, durch den ein Begriff (das Definiendum) definiert
        wird, heißt Definiens (lat. das, was definiert
).
    
    
        Ein solches System besteht zunächst aus einer Reihe von Grundbegriffen, die
        nicht explizit definiert werden können, sondern entweder durch ihre Stellung
        im Gesamtsystem implizit definiert sind, oder im Rahmen einer anderen Theorie definiert
        werden. Alle anderen Begriffe werden aus den Grundbegriffen durch Definition abgeleitet.
    
    
        Dabei können verschiedene Arten von Definitionen unterschieden werden.
    
    
        Definition 2.15. Realdefinition
    
    
        Durch eine Realdefinition wird eine bereits bekannter
        Begriff auf andere bekannte Ausdrücke in Übereinstimmung mit deren Bedeutungen
        zurückgeführt (reduziert).
    
    
        Definition 2.16. Nominaldefinition
    
    
        Durch eine Nominaldefinition wird ein neuer Begriff in die Wissenschaftssprache
        eingeführt und diese somit erweitert.
    
    
        Ein typisches Beispiel für dieses Verfahren ist Bloomfields Artikel A
        Set of Postulates...
 (1926, vgl. Kapitel 1).
        Dort wird beispielsweise Sprechakt als Grundbegriff vorausgesetzt und als Äusserung
        bezeichnet:
    
    
        Definition 2.17. Äußerung
    
    
        Ein Sprechakt ist eine Äußerung.
    
    
        Ein weiterer Grundbegriff ist gleich, der zusammen mit dem Terminus Äußerung
        zur Definition von Sprachgemeinschaft herangezogen wird:
    
    
        Definition 2.18. Sprachgemeinschaft
    
    
        Innerhalb bestimmter Gemeinschaften sind aufeinander folgende Äußerungen
        gleich oder teilweise gleich. Eine solche Gemeinschaft ist eine Sprachgemeinschaft
    
    
        Nachdem nun auf diese Weise Äußerung und Sprachgemeinschaft definiert ist,
        definiert Bloomfield Sprache wie folgt:
    
    
        Definition 2.19. Sprache
    
    
        Die Gesamtheit der Äußerungen, die in einer Sprachgemeinschaft gemacht
        werden können, bildet die Sprache dieser Sprachgemeinschaft.
    
    
        2.3.4. Beschreibungssprache 
    
    
        In 2.1.1 wurde Wissenschaftssprache definiert als die Gesamtheit der sprachlichen
        Mittel einer Wissenschaft. Unter diesen Mitteln ist eine Teilmenge besonders wichtig,
        nämlich die sprachlichen Mittel, mit denen die Theorien formuliert werden.
        Dieser Teil einer Wissenchaftssprache soll Beschreibungssprache
        genannt werden.
    
    
    
        Wissenschaftliche Theorien sollen bestimmten Anforderungen genügen:
    
    
        
            (a) Sie sollen widerspruchsfrei sein.
          (b) Sie sollen adäquat sein, d.h. mit den Fakten übereinstimmen.
            (c) Sie sollen explizit sein, d.h. sie sollen keine unausgesprochenen
          Annahmen machen.
            (d) Sie sollen einfach sein.
        
    
    
        Die Anforderungen (b)–(d) können nicht unmittelbar, sondern nur im Vergleich
        mit anderen Theorien überprüft werden. Ihre Überprüfung beruht
        also auf Aussagen wie "die Theorie T1 ist einfacher (adäquater,
        expliziter) als T2, weil ...". 
        Der Begriff widerspruchsfrei bezieht sich nicht direkt auf die beschriebenen
        Sachverhalte, sondern auf den logischen Zusammenhang der Sätze der Theorie.
        Es hat sich gezeigt, daß es leichter ist, Theorien zu entwickeln, die diesen
        Anforderungen genügen, wenn man als Beschreibungssprache Kunstsprachen verwendet,
        die nach bestimmten Prinzipien konstruiert sind: symbolisierte und formalisierte
        Sprachen.
    
    
        Definition 2.20. symbolisierte Sprache
    
    
        Eine symbolisierte Sprache ist eine Sprache, "deren Zeichen (=Symbole) künstlich
        geschaffen oder mit einer bestimmten neuen Bedeutung versehen wurden" (Klaus/Buhr
        1971, sv. Sprache, symbolisierte).
    
    
        Linguistische Symbole in diesem Sinne sind z.B. die Symbole für syntaktische
        und lexikalische Kategorien wie z.B. S, NP, VP, AP, PP für Satz, Nominalphrase,
            Verbalphrase, Adjektivphrase, Präpositionalphrase bzw. N, V, A, P
        für Nomen, Verb, Adjektiv, Präposition. Die moderne Linguistik
        bedient sich in vielen Bereichen einer symbolisierten Sprache. So kann z.B. die
        Aussage "ein Satz (S) besteht aus (→) einer Nominalphrase (NP) verkettet
        mit (
) einer Verbalphrase (VP)"
        durch den Ausdruck S → NP
VP
        symbolisiert werden. Eine symbolisierte Sprache muß in eine natürliche
        Sprache übersetzbar sein, sonst ist sie sinnlos. Die Ausdrücke einer symbolisierten
        Sprache sind wesentlich übersichtlicher und kürzer als deren Übersetzung
        in die natürliche Sprache. Beispiel:
    
        
        x
        
        y
        
        z [S(z) ← z=x
y ∧ NP(x)
        ∧ VP(y)]
    
        Die Übersetzung dieses Ausdrucks lautet: Für beliebige (Ketten) x, y, z
        gilt: z ist ein Satz (S(z)), falls z gleich der Verkettung
        von x und y ist (z=x
y)
        und x eine Nominalphrase (NP(x)) und y eine Verbalphrase (VP(y))
        ist. Eine formalisierte Sprache ist meist eine symbolisierte Sprache im eben definierten
        Sinne. Sie weist darüber hinaus eine Reihe weiterer Eigenschaften auf.
        In einer formalisierten Sprache ist durch die Syntax genau festgelegt, welche Ausdrücke
        in ihr möglich sind (wohlgeformt sind). Sie enthält Operationsregeln,
        die es erlauben, aus wohlgeformten Ausdrücken neue wohlgeformte Ausdrücke
        abzuleiten. Darüber hinaus ist durch eine Semantik festgelegt, wie die wohlgeformten
        Ausdrücke zu interpretieren sind. Über formalisierte Sprachen verfügen
        insbesondere Teilgebiete der formalen Logik und der Mathematik. Die Beschreibungssprache
        der Linguistik ist primär eine symbolisierte Sprache. Es gibt jedoch auch in
        der Linguistik Ansätze zu einer formalisierten Sprache. Voraussetzung
        für den Aufbau einer formalisierten Sprache für ein bestimmtes Wissenschaftsgebiet
        ist, daß dessen logische Struktur genau bekannt ist und formuliert werden
        kann (vgl. Klaus/Buhr 1971, sv. Sprache, formalisierte). Das trifft für
        die Linguistik jedoch nur in beschränktem Maße zu.
  
    
        In seinem Buch Syntactic Structures definiert Chomsky Sprache wie folgt:
    
    
        Definition 2.21. Sprache
    
    
        Von nun an will ich Sprache als eine (endliche oder unendliche) Menge von Sätzen
        auffassen, von welchen jeder von endlicher Länge und aus einer endlichen Menge
        von Elementen aufgebaut ist. (Chomsky 1957: 13, Übers. K.H.W).
    
    
        Diese Definition ist ganz allgemein und schließt natürliche Sprachen
        nur als Sonderfall ein. Was für Objekte die Sätze einer Sprache tatsächlich
        sind hängt davon ab, aus welchen Grundelementen sie aufgebaut sind.
    
    
        Alle natürlichen Sprachen in ihrer gesprochenen und geschriebenen Form sind
        Sprachen in diesem Sinne, da jede natürliche Sprache eine endliche Zahl von
        Phonemen (oder Buchstaben des Alphabets) aufweist und jeder Satz als eine endliche
        Folge dieser Phoneme (oder Buchstaben) darstellbar ist, obwohl es unbegrenzt viele
        Sätze gibt. In ähnlicher Weise kann die Menge der Sätze
        irgendeines formalisierten Systems der Mathematik als eine Sprache aufgefaßt
        werden. (Chomsky 1957: 13, Übers. K.H.W.)
    
    
        Insbesondere im Zusammenhang mit formalen Sprachen wird statt des Ausdrucks grammatisch
        zur Charakterisierung der Sätze einer Sprache der Ausdruck wohlgeformt verwendet.
        Ungrammatische
 Ausdrücke sind nicht wohlgeformt.
    
    
        Gegeben sei beispielsweise folgende formale Sprache: L = {ab, aabb, aaabbb …}
        Die folgenden Ketten sind nicht wohlgeformt:
    
    
        *ba, *aab, *abb, *aba, *ababbb.
    
    
        Die allgemeine Form eines Satzes in L ist also anbn,
        d.h. eine Folge von n a
 gefolgt von einer Folge von n b
.
        Unter der Annahme, daß es für n keine Obergrenze gibt, können
        die Sätze
 in L nicht einfach durch Aufzählung definiert
        werden. Es ist also ein (endliches) Verfahren notwendig, das bestimmt welche der
        theoretisch möglichen Folgen von a und b in L enthalten
        sind. Die folgenden Regeln reichen dafür aus:
    
    
        (a) ab ist in L
    
    
        (b) Wenn S in L ist, dann ist auch aSb in L
    
    
        (c)  Nur nach (1) und (2) zulässige Ausdrücke sind in
        L.
    
    
        Dabei steht das Symbol S für eine beliebige bereits als Satz von L
        identifizierte Folge von a und b.
    
    
        
            | 
                Ableitungsbeispiel:
             | 
            
                (1) ab
             | 
            
                Regel 1
             | 
        
        
            | 
                (2) aabb
             | 
            
                Regel 2, (1)
             | 
        
        
            | 
                (3) aaabbb
             | 
            
                Regel 2, (2)
             | 
        
        
            | 
                (4) aaaabbbb
             | 
            
                Regel 2, (3)
             | 
        
    
    
        Im obigen Zitat aus Chomsky (1957) wird der Ausdruck formalisiertes System
        verwendet. Ein formalisiertes System (formales System) ist ein Symbolsystem, in
        dem dafür definierte Operationen mechanisch ausgeführt werden können,
        ohne daß man wissen muß, wofür die Symbole in Wirklichkeit stehen.
        Formalisierte Systeme werden durch Sprachen im oben definierten Sinne ausgedrückt.
        Ein anderer Ausdruck für eine formale Sprache ist Kalkül.
    
    
        Definition 2.22. Kalkül
    
    
        Die Sprache eines formalisierten Systems wird Kalkül genannt.
    
    
        Definition 2.23. uninterpretiertes Kalkül
    
    
        Ein Kalkül, dessen Formationsregeln oder syntaktische Regeln, festgelegt sind,
        für dessen Ausdrücke aber noch keine Interpretation geliefert worden ist,
        ist ein uninterpretiertes Kalkül.
    
    
        Definition 2.24. interpretiertes Kalkül
    
    
        Ein Kalkül, für das sowohl syntaktische als auch semantische Regeln gegeben
        sind, ist ein interpretiertes Kalkül.
    
    
        Definition 2.25. formalisierte Sprache
    
    
        Eine formalisierte Sprache ist ein interpretiertes Kalkül.
    
    
        Es gibt formalisierte Systeme, die mehrere verschiedene konkrete Interpretationen
        haben. Ein Beispiel dafür ist etwa die Boolesche Algebra, die als Kalkülisierung
        sowohl der Mengentheorie als auch der Aussagenlogik verstanden werden kann.
    
    
        Im folgenden Kapitel werden wir uns ausführlich mit der Aussagenlogik im Sinne
        einer formalisierten Sprache, d.h. eines interpretierten Kalküls befassen.
    
    
        2.3 Literatur 
    
    
        Bloomfield, Leonard
    
    
        1926       A Set of Postulates for the Science of
        Language. In: Language 2, 153–4.
    
    
        Carnap, Rudolf
    
    
        1959       The Logical Syntax of Language.
        Transl. by Amethe Smeaton, Littlefield, Adams & Co.: Paterson, N.J.
    
    
        Chomsky, Noam
    
    
        1957       Syntactic Structures. Mouton:
        The Hague
    
    
        Esser, Wilhelm K.
    
    
        1970       Wissenschaftstheorie I. Definition und Reduktion.
        Alber: Freiburg/München.
    
    
        Klaus, Georg und Manfred Buhr (Hg.)
    
    
        1971 Philosophisches Wörterbuch. Berlin: das europäische buch.
    
    
        Suppes, Patrick
    
    
        1957       Introduction to Logic. D. van Nostrand
        Company, Inc.: Princeton, N.J./
        Toronto/ London/New York.
    
    
        von Savigny, Eike
    
    
        1970     Grundkurs im wissenschaftlichen Definieren.
        Übungen zum Selbststudium. dtv: München.