Kapitel 5. Grundbegriffe der Mengenlehre
5.1. Warum Mengenlehre?
Rolle von Mengen in der Begriffsentwicklung der Linguistik.
Kategorien: lexikalische und syntaktische
Distribution
Merkmale
Mengen als Alltagsbegriffe.
Naive Mengenlehre
5.2. Menge und Element
Einer der allgemeinsten Begriffe ist der Begriff Menge, die Zusammenfassung von wohlunterschiedenen
Objekten (Individuen) zu einem begrifflichen Ganzen. Natürliche
Sprachen enthalten zahlreiche Wörter wie Gruppe, Herde, Meute,
Rudel, Schar, Schwarm, Mannschaft, die zur Bezeichnung von Mengen
in diesem Sinne verwendet werden.
Definition 5.1. Individuum
Bestimmte, wohlunterschiedene Objekte unserer Anschauung oder unseres
Denkens nennen wir Individuen.
Individuen nicht notwendigerweise konkret
Definition 5.2. Menge
Unter einer Menge versteht man jede Zusammenfassung von Individuen zu
einem Ganzen.
Beispiele für Mengen:
-
die Menge der Seminarteilnehmer
-
die Menge der natürlichen Zahlen, die kleiner als 10 sind
-
die Menge der Beamten, die Radfahrer sind
-
die Menge der Wörter der deutschen Sprache
-
die Menge der natürlichen Zahlen, die kleiner als 0 sind
Definition 5.3. Element
Die Objekte, die zu einer Menge zusammengefaßt sind, nennt man
Elemente der Menge.
Beispiel:
Definition 5.4.
Elementbeziehung
Die Elementbeziehung ist eine (zweistellige)
logische Beziehung zwischen einem Individuum und der Menge, der das
Individuum angehört.
Die Elementbeziehung ist Element von
wird durch , die Beziehung ist nicht Element von
durch symbolisiert.
Es sei M die Menge der natürlichen Zahlen, die
größer als 5 sind, dann gilt z.B.:
(5.1.) (a) 7 ist Element von M
(5.2.) (a) 4 ist nicht Element von M
In symbolisierter Sprache schreibt man dafür kürzer:
(5.1.) (b) 7M
(5.2.) (b) 4M
Ein Individuum kann gleichzeitig Element von mehreren Mengen sein. Es
gibt einige zusammengesetzte Substantive wie Jagdbomber oder
Dichterkomponist, die diese Eigenschaft aufweisen. Wenn jemand
ein Dichterkomponist ist, ist er gleichzeitig ein Dichter und ein
Komponist.
Die Elemente einer Menge brauchen weder konkret nocht real zu sein.
Auch abstrakte oder imaginäre Objekte wie Zahlen, Einhörner,
oder der Stein der Weisen können Elemente einer Menge sein. Da
Mengen als Ganzheiten betrachtet werden, können die Elemente
einer Menge können selbst Mengen sein. Die Bundesliga z.B.
ist eine Menge von Elementen, die selbst Mengen sind, die
Bundesligamannschaften, die ihrerseits Mengen von Individuen, den
einzelnen Spielern, sind.
Mengen können aus endlich oder unendlich vielen Elementen
bestehen. Die Menge der Seminarteilnehmer ist endlich, die Menge der
natürlichen Zahlen unendlich.
Man kann Mengen auf zwei Arten beschreiben:
-
indem man Ihre Elemente aufzählt
-
durch eine Beschreibung, die auf alle Elemente zutrifft
(Aussonderung durch eine Eigenschaft)
Mengen kennzeichnet man durch geschweifte Klammern (Mengenklammern):
{ }
Gegeben sei die Menge M der natürlichen Zahlen, die
kleiner als 5 sind. In aufzählender Schreibweise ist M
beschrieben durch:
(5.3.) {1, 2, 3, 4}
Die Reihenfolge der Nennung der Elemente spielt dabei keine Rolle. Die
Mengen (5.3.) und (5.4.) sind identisch:
(5.4.) {2, 3, 1, 4}
Die aufzählende Mengenschreibweise ist nur möglich bei
endlichen Mengen und nur praktisch bei kleinen Mengen. Sie ist
allerdings notwendig bei Mengen, deren Elemente keine gemeinsame
Eigenschaft haben, wie z.B. die Menge {Hut, 3, §}.
Die Menge der natürlichen Zahlen läßt sich nicht durch
Aufzählung beschreiben.
Man vergleiche folgende Paraphrasen:
-
Menge der natürlichen Zahlen
-
Menge der Objekte, die natürliche Zahlen sind
-
Menge der Objekte mit der Eigenschaft natürliche
Zahl
-
Menge der x, für die gilt, x ist eine
natürliche Zahl
-
Menge der x, für die gilt, x hat die
Eigenschaft natürliche Zahl
Die Ausdrücke (5.5.) (d) und (e) lassen sich in symbolisierte
Sprache übersetzen:
-
der Ausdruck Menge der wird durch die Mengenklammer
symbolisiert
-
der Ausdruck für die gilt wird durch einen
Längsstrich '|' symbolisiert
-
der Ausdruck x hat die Eigenschaft P wird durch den
prädikatenlogischen Ausdruck P(x) symbolisiert
Der Ausdruck (5.5.)(d) läßt sich dann wie folgt in
symbolisierter Sprache schreiben:
(5.6.) {x | x ist eine natürliche Zahl}
Bezeichnet man den Ausdruck natürliche Zahl durch das
Symbol N, kann man noch kürzer schreiben
(5.7.) {x | N(x)}
Ausdrücke, mit denen man Mengen bezeichnet, nennt man
Mengenzeichen. Die Ausdrücke {..., ..., ...} und {x |
P(x)} sind Mengenzeichen. Als allgemeine Mengenzeichen
verwendet man Großbuchstaben: A, B, C ..., insbesondere
M mit oder ohne Index (M1, M2,
Mi ...).
Verschiedene Mengenzeichen können die gleiche Menge bezeichnen.
Beispiel:
(5.8.) (a) {1,
2}
(b)
{x | x ist natürliche Zahl kleiner als 3}
Statt "die durch A bezeichnete Menge" sagt man kurz
"die Menge A"
Man kann auch Regeln formulieren, welche die Bedingungen festlegen,
die für die Mitgliedschaft in der Menge erfüllt sein
müssen. Sei G={2, 4, 6, …} die Menge der geraden
natürlichen Zahlen (d.h. G={x | gerade(x)},
dann läßt sich die Mitgliedschaft wie folgt definieren:
1. ist ein Element von G
2. wenn x ein Element von G ist, dann ist auch x+2
in G
3. nur nach 1. oder 2. bildbare Individuen sind Elemente von G
Durch eine unerfüllbare Bedingung wie x<0 ∧ x>1 wird man auf die
leere Menge geführt.
Definition 5.5. leere Menge
Die leere Menge oder Nullmenge ist die Menge, die keine Elemente hat. Sie wird
üblicherweise durch das Zeichen bezeichnet, obwohl das
Mengenzeichen { } konsequenter wäre. Es kann nur eine leere
Menge geben. Man kann sie durch eine beliebige unerfüllbare
Eigenschaft definieren,
z.B.:
:= {x | x x}
Ein weiterer Sonderfall einer Menge ist eine Menge mit nur einem
Element. Obwohl es Ausdrücke wie Einmannbebtrieb oder
Einmannkapelle gibt, besteht in der Alltagssprache die Neigung
Einermengen mit dem Objekt, aus dem sie jeweils bestehen, zu
identifizieren. Für eine saubere Begriffsbildung ist es jedoch
notwendig, die beiden zu unterscheiden. Bob Beamon und die Menge, die
Bob Beamon als einziges Element enhält sind nicht die gleichen
Objekte. Bis 1991 konnte letztere beispielsweise definiert werden als
die Menge aller Leichtathleten, die 8,90m oder weiter gesprungen sind.
Bis 1991 traf es sich, daß diese Menge nur Bob Beamon als
Element enhielt. Seit den olympischen Spielen von Tokyo 1991 kam mit
Mike Powell ein zweites Element hinzu.
Definition 5.6. Einermenge
Eine Einermenge ist eine Menge mit nur einem
Element. Ist M eine Menge, dann ist {M} die Einermenge
von M.
Sei H={a, b}, dann ist {H}={{a, b}}. Man beachte,
daß H zwei Elemente hat, {H} aber nur eines.
Häufig werden die Bezeichnungen Menge
und Klasse mit gleicher Bedeutung verwendet.
Es ist jedoch sinnvoll einen Unterschied zu machen und von Klassen nur dann zu sprechen, wenn die Elemente
durch gleiche Eigenschaften definiert sind:
Definition 5.7. Klasse
Eine Menge ist eine Klasse, wenn alle ihre
Elemente durch gemeinsame Merkmale definiert sind.
Die meisten Mengen, mit denen wir es in der Sprachwissenschaft zu tun
haben, sind Klassen in diesem Sinne.
5.3. Beziehungen zwischen Mengen
Man kann Mengen hinsichtlich ihrer Elemente vergleichen und aufgrund
gewisser Beziehungen zwischen Mengen neue Mengen bilden.
Definition 5.8. gleich
Zwei Mengen heißen gleich, wenn sie die
gleichen Elemente enthalten.
A = B:⇔ x (x ∈ A ⇔ x ∈ B)
Definition 5.9. disjunkt
Zwei Mengen heißen disjunkt, wenn sie
keine gemeinsamen Elemente haben.
disjunkt(A, B) :⇔ ¬x(x ∈ A ∧ x ∈ B)
Definition 5.10. Teilmenge
Eine Menge M1 ist Teilmenge
einer Menge M2 (ist in M2 enthalten),
wenn jedes Element aus M1 auch Element aus
M2 ist. Die Beziehung ist
enthalten wird durch das Zeichen ⊆ symbolisiert.
M1 ⊂ M2:⇔ x (x ∈
M1 ⇒ x ∈ M2)
Beispiel: Die Menge {a, c, e} ist in der Menge {a, b, c, d, e}
enthalten.
Nach der Definition der Teilmenge ist auch {a, c, e} in {c, e, a}
enthalten. Diese Mengen sind jedoch identisch. Nach dieser Definition
ist jede Menge in sich selbst enthalten. Das kommt auch in der Form
des Inklusionszeichens ⊆ zum Ausdruck, das man sich aus den
Zeichen ⊂ und = zusammengesetzt denken kann.
Es gibt noch einen engeren Begriff der Teilmenge der den Fall der
Gleichheit von Mengen ausschließt:
Definition 5.11. Echte
Teilmenge
Eine Menge M1 ist eine echte Teilmenge einer Menge
M2 (ist in M2 echt enthalten),
wenn M1 eine Teilmenge von M2 ist,
beide Mengen aber verschieden sind: M1 ≠
M2.
M1 ⊂ M2 :⇒ M1 ⊆
M2 ∧ M1 ≠ M2
Zu den Begriffen Teilmenge und echte Teilmenge gibt es die Umkehrbegriffe Obermenge und echte Obermenge:
Definition 5.12. Obermenge
Eine Menge M1 ist eine Obermenge einer Menge
M2, genau dann, wenn M2 eine
Teilmenge von M1 ist:
M1 ⊆ M2 :⇒ M2 ⊆
M1
Definition 5.13. echte
Obermenge
Eine Menge M1 ist eine echte Obermenge einer Menge
M2, genau dann, wenn M2 eine echte
Teilmenge von M1
ist:
M1 ⊃ M2 :⇔ M2 ⊂
M1
Zwischen ∈ und ⊂ ist streng zu unterscheiden, was in der
Alltagssprache häufig nicht beachtet wird. Der Ausdruck ist
ein in Hansi ist ein Kaninchen und in Ein Kaninchen ist
ein Säugetier bedeutet jeweils etwas anderes: im ersten Falle
bezeichnet es die Elementbeziehung (Hansi ∈
Kaninchen) im zweiten die Teilmengenbeziehung
(Kaninchen⊂Säugetier).
Mengenbeziehungen können mit Hilfe von sog. Venndiagrammen[1] veranschaulicht
werden. Dabei muß man sich die Objekte, die zu Mengen
zusammengefügt werden, in einer Ebene verteilt denken. Die
Elemente einer bestimmten Menge werden durch eine Linie
eingeschlossen.
Beispiel:
Abb. 5.1.
Durch die dünne Linie wird die Menge A = {c, d, e, f, g,
h, i, j, k, n, s}dargestellt, durch die dicke Linie die Menge B
={f, g, j}.
Die graphische Darstellung zeigt deutlich, daß B echte
Teilmenge von A ist.
Wenn zwei "Mengenlinien" sich schneiden, entstehen neue
geschlossene Linienzüge, d.h. neue Mengen.
Abb. 5.2.
Außer den Mengen A ={a, b, c, d, e, f} und B ={e,
f, g, h, i} sind in Abb. 5.2. noch vier weitere Mengen dargestellt,
die sich unter Bezug auf die Mengen A und B definieren
lassen.
Abb. 5.3.
In Abb. 5.3. ist die Menge {e, f} herausgehoben. Bezogen auf die
Mengen A und B läßt sie sich beschreiben als
die Menge der Elemente, die Elemente sowohl aus A also auch aus
B sind. Sie wird Schnittmenge von
A und B genannt. Die Operation der Schnittbildung wird
durch das Zeichen ∩ symbolisiert. Für die Schnittmenge von
A und B schreibt man in symbolisierter Sprache
(5.9.) A ∩ B
Dieser Ausdruck wird gelesen als "A geschnitten mit
B".
Definition 5.14.
Schnittmenge
Die Schnittmenge zweier Mengen M1 und M2 ist die
Menge der Elemente, die sowohl zu M1 als auch zu
M2 gehören:
M1 ∩ M2:= {x| x∈ M1 ∧ x
∈ M2}
Man bezeichnet die Schnittmenge auch als Durchschnitt oder als Intersektion.
Wenn zwei Mengen keine gemeinsamen Elemente haben, dann ist ihre
Schnittmenge die leere Menge. Die leere Menge wird durch das Zeichen
symbolisiert. Zwei Mengen, deren Schnittmenge leer ist,
werden disjunkt oder elementfremd genannt.
disjunkt
Zwei Mengen M1 und M2 sind disjunkt oder
elementfremd, wenn M1 ∩ M2=
Abb. 5.4.
Die in Abb. 5.4. dargestellte Menge läßt sich beschreiben
als die Menge der Elemente, die entweder zu A oder zu B
oder zu beiden gehören. Man nennt sie die Vereinigungsmenge von A und B. Die
Operation der Vereinigung wird durch das Zeichen ∪ symbolisiert.
Für die Vereinigungsmenge von A und B schreibt man
in symbolisierter Sprache
A ∪ B
Dieser Ausdruck wird gelesen als "A vereinigt mit
B".
Definition 5.15.
Vereinigungsmenge
Die Vereinigungsmenge zweier Mengen M1 und M2
ist die Menge der Elemente, die entweder zu M1 oder zu
M2 gehören:
M1 ∪ M2:={ x| x ∈ M1 ∧
x ∈ M2}
Abb. 5.5.
In Abb. 5.5. ist die Menge {a, b, c, d} hervorgehoben. Bezogen auf die
Mengen A und B läßt sie sich beschreiben als
die Menge der Elemente, die zu A, aber nicht zu B
gehören. Sie wird Differenzmenge von
A und B genannt und A − B (oder
A \ B) geschrieben (lies: 'A minus B' oder
'A ohne B').
Definition 5.16.
Differenzmenge
Die Differenzmenge zweier Mengen M1 und M2 ist
die Menge der Elemente, die zu M1 aber nicht auch zu
M2 gehören:
M1 – M2 := {x | x ∈ M1
∧ x M2}
Es ist manchmal sinnvoll, den zur Diskussion stehenden
Gegenstandsbereich auf eine bestimmte Menge von Individuen
einzuschränken. Es macht beispielsweise keinen Sinn, von der
Sterblichkeit natürlicher Zahlen zu sprechen. Wenn wir also einen
Ausdruck wie 'x ist sterblich' verwenden, setzen wir
stillschweigend voraus, daß 'x' zu einer Menge von
Individuen gehört, denen die Eigenschaft 'sterblich'
sinnvoll zugeschrieben werden kann. Man bezeichnet den einer Theorie
zugrunde liegenden Individuenbereich als Grundmenge.
Definition 5.17. Grundmenge
Der Individuenbereich, über den in einem bestimmten Zusammenhang
Aussagen gemacht werden, wird Grundmenge
genannt (engl. universe of discourse).
Definition 5.18. Komplement
Ist A ⊆ G, so heißt G−A
auch das Komplement von A
bezüglich G, das auch als A geschrieben wird,
wenn durch den Zusammenhang kein Zweifel besteht, welche Menge
G gemeint ist, beispielsweise wenn G die Grundmenge ist.
Literatur