Grammatische Strukturen

Einleitung: Struktur

Im Rahmen nicht nur der spezifisch strukturalistischen Linguistik spielt der Begriff »Struktur« (von lat. structura 'Aufbau') eine tragende Rolle. Dieser Begriff ist uns aus der Alltagssprache vertraut, in der wir u.a. Gesellschafts­strukturen, Gebäudestrukturen, Familienstrukturen, Softwarestrukturen und viele weitere Strukturen diskutieren. In der Sprachwissenschaft untersuchen wir Wortstrukturen, Satzstrukturen, Lautstrukturen, Bedeutungs­strukturen usw. Was aber ist eine Struktur? Was ist das Gemeinsame von Gesellschaften, Gebäuden, Familien, Wörtern, Sätzen usw., das uns ermöglicht, jeweils von deren Strukturen zu sprechen?

In allen Fällen können wir sagen, dass es sich bei den genannten Entitäten um einigermaßen komplexe Systeme handelt, die sich aus

  1. einer Menge von Elementen konstituieren und aus
  2. den verschiedenartigen Beziehungen, die zwischen diesen Elementen bestehen.

Ein Gebäude besteht aus verschiedenen Zimmern, die räumlich zueinander in Beziehung gesetzt werden können; eine Familie aus verschiedenen Mitgliedern, die verwandtschaftlich zueinander in Beziehung stehen. Ein Wort besteht aus verschiedenen Morphemen und ein Satz aus verschiedenen Wörtern, die ebenfalls durch spezifische Relationen zuein­ander in Bezug gesetzt sind. Konzentrieren wir uns nun auf diese Beziehungen, so erhalten wir eine allgemeine Definition für Struktur:

Struktur: Eine Struktur ist die Menge aller Relationen zwischen den Elementen eines Systems.

Die für uns zentrale Frage lautet: was für Beziehungen bestehen zwischen den einzelnen Elementen eines komplexen Wortes oder eines Satzes? Wie also sieht die Struktur komplexer Wörter oder Sätze aus?

Hierarchische Strukturen in Sätzen

In den nachstehenden Abschnitten werden, völlig voraussetzungslos und in sehr kleinen Schritten, einige der Kern­konzepte vorgestellt, die für die Beantwortung dieser Frage relevant sind, nämlich die Konzepte

  1. Dependenz,
  2. Konstituenz,
  3. Kopf.

Diese Konstrukte können als elementar für jegliche Art der modernen Grammatikbeschreibung gesehen werden, spielen also in der Syntax und der Morphologie eine zentrale Rolle. Dabei ist es so, dass sie zunächst in der Syntax motiviert und später auf die Morphologie übertragen wurden. Aus diesen Grund verwenden wir zur Illustration zunächst Phrasen, also Ketten von Wörtern, und werden die dabei erzielten Erkenntnisse im Anschluss auf komplexe Wörter und Komposita übertragen. Damit spiegeln wir ein wenig die historische Entwicklung wieder.

Dependenz

Dependenz (von lat. dependeo (inf. dependere) 'abhängen (von)') ist eine binäre, d.h. zwischen genau zwei Elementen X und Y bestehende Relation, in der das eine Element X das Vorkommen und/oder den Typ bzw. die Form und/oder allgemein das ­grammatische »Verhalten« des anderen Elementes Y determiniert. Das determinierende Element bezeichnen wir als »Kopf« (engl. head), das abhängige als »Dependens« (engl. dependent).[1] Eine Dependenzrelation ist also per definitionem asymmetrisch, d.h. nicht umkehrbar.

Sehen wir uns zunächst zwei Beispiele aus der Syntax an, um diese Aussagen zu konkretisieren. Es geht um die jeweils unterstrichenen Wörter in:

  1. Mr. Burns ist ein sehr reicher Mann. [sehr reicher]
  2. Die Wohlfahrt unterstützt ihn. [unterstützt ihn]

Bei den Wörtern sehr und reicher in Satz  (1) ist sehr abhängig von reicher, da reicher das Vorkommen von sehr bestimmt und nicht anders herum:

  1. *Mr. Burns ist ein sehr Mann vs. Mr. Burns ist ein reicher Mann

Bei den Wörtern unterstützt und ihn in Satz (2) ist ihn abhängig von unterstützt, da unterstützt einerseits das Vorkommen von ihn fordert und darüber hinaus dessen die Form, nämlich kasus:akk. Hier könnten wir es auch so ausdrücken: ein Verb öffnet eine bestimmte Anzahl von Argumentstellen, die jeweils mit bestimmten morphologischen Merkmalen assoziiert sind. Diejenigen Elemente, die in diesen sog. Slots auftreten, sind entsprechend abhängig vom Verb:

  1. *Er unterstützt

Klare Fälle von Abhängigkeit im syntaktischen Sinn sind Kongruenz- und Rektionsbeziehungen, also z.B. zwischen Nomina und Adjektiven (in denen sich die Flexionseigenschaften der Adjektive an denen der Nomina orientieren) oder Verben und ihren Argumenten (in denen die Argumente vom Verb abhängen) oder Präpositionen und Nomina (in denen die Kasusform des Nomens durch die Präposition bestimmt ist).

Interessant wird die Geschichte dann, wenn wir weitere Wörter aus Satz (1) in unsere Überlegungen einbeziehen und uns anschauen, wie es darin mit den Dependenzstrukturen aussieht:

  1. sehr reicher Mann

Nach dem gerade Gesagten ist klar, dass das Adjektiv vom Nomen abhängt, das Adverb, wie gesehen, vom Adjektiv: reicher hängt von Mann ab, sehr hängt von reicher ab. In der Kette

  1. ein sehr reicher Mann

käme noch die Dependenzrelation zwischen dem Determinator und dem Nomen hinzu. Über diese Relation werden Sie in der Literatur keinen Konsens finden: Während es auf den ersten Blick intuitiv klar zu sein scheint, dass der Determinator vom Nomen abhängt (da das Nomen beispielsweise die Genusform des Determinators vorgibt), bestehen hier durchaus begründete Gegenargumente. Wir werden dieser Frage erst in der Syntax nachgehen und aus Kompatibilitäts­gründen mit unseren Lehrbüchernin diesem Text die insbesondere in Einführungen und in der Typologie favorisierte Annahme zugrunde legen, nach der der Determinator vom Nomen abhängt. Tabellarisch können wir die Dependenzstruktur der Kette in Beispiel (6) so wiedergeben:

Tabelle 1: Dependenzstruktur ein sehr reicher Mann

Tabellen sind allerdings nicht die Darstellungsform der Wahl, wenn es um Satz- oder Wortstrukturen geht. Stattdessen werden diese in aller Regel in Form von Baumgraphen; bei Konstituenzstrukturen auch noch von Klammerausdrücken notiert.

Dependenzgraphen werden nach folgenden Prinzipien erstellt:

  • das abhängige Element wird in der Vertikalen unterhalb des Kopfes aufgeführt, beide werden mit einer Kante verbunden,
  • die lineare Anordnung der beiden in der Horizontalen entspricht der Reihenfolge im Satz.

Bezogen auf die einzelnen Zeilen in Tabelle (1) sähe das so aus:

Abbildung 1: Dependenzrelationen zwischen jeweils zwei Wörtern

Zusammengenommen hat die untersuchte Kette die folgende Dependenzstruktur:

Abbildung 2 : Dependenzstruktur ein sehr reicher Mann

Was hier gut deutlich wird, ist, dass Dependenzstrukturen hierarchische Strukturen sind, denn es gilt:

Hierarchische Struktur: Eine Menge asymmetrischer Relationen resultiert in einer hierarchischen Struktur.

Weiter bieten uns Dependenzstrukturen eine gute Grundlage, um aus ihnen auch die Konstituenten­struktur eines Satzes bzw. einzelner Teilketten eines Satz abzuleiten.

Konstituenz

Eine Konstituente kann als eine »Einheit in der Einheit« gesehen werden. In der Syntax findet sich hierfür auch die Bezeichnung »Phrase«, und Phrasenstrukturen sind Ihnen bereits im Grundkurs begegnet (glaube ich jedenfalls). Intuitiv haben wir in der Muttersprache ein Gefühl[2] dafür, was eine Konstituente ist und was nicht: in Satz (1) würden wir wohl alle intuitiv die Ketten

  1. [Mr. Burns], [ein sehr reicher Mann], [sehr reicher]

als solche Einheiten empfinden, jedenfalls eher als z.B. eine Kette wie

  1. ?[ist ein sehr].

Historisch betrachtet stammen Dependenz- und Konstituentenstrukturen aus verschiedenen linguistischen Schulen und es gab Zeiten, in denen die Frage danach, was der präferierte Formalismus sein sollte, intensiv diskutiert wurde. In modernen Ansätzen der syntaktischen bzw. morphologischen Beschreibung allerdings sind beide Konzepte fest miteinander verzahnt:

The debate between advocates of dependency and advocates of constituency [...] has lost much of its force as linguistic theories have increasingly come to incorporate aspects of both.[3]

Tatsächlich können wir auf einfache Weise Konstituenten- bzw. Phrasenstrukturen aus Dependenzstrukturen ableiten derart, dass wir eine Phrase definieren als einen Kopf plus alle von diesem Kopf (mittelbar und unmittelbar) abhängigen Elemente:

Phrase: Eine Phrase konstituiert sich aus einem Kopf plus – falls vorhanden – den von ihm abhängigen Elementen.

Diese Definition können wir gut an der Dependenzstruktur aus Abbildung 2: Dependenzstruktur ein sehr reicher Mann ) veranschaulichen, und zwar indem wir um die Köpfe und die jeweilig abhängigen Elemente einfach einen Kasten ziehen:

Abbildung 3 : Konstituenten in ein sehr reicher Mann

Auf unser Beispiel bezogen erhalten wir folgendes Ergebnis, das genau unsere Intuition spiegelt: die Phrase

  1. [sehr reicher], ihrerseits Teil der Phrase
  2. [ein [sehr reicher] Mann].

Das bisher Gesagte lässt vielleicht die Frage aufkommen, was uns denn an der Dependenz- bzw. Konstituenz der Kette ein sehr reicher Mann überhaupt so interessiert, ist diese doch nur eine von unzählig vielen möglichen Ketten der deutschen Sprache. Das ist eine sehr berechtigte Frage, und tatsächlich interessiert uns ein sehr reicher Mann nur insofern, als wir hier ein Template oder eine Art Blaupause für zahllose weitere wohlgeformte Ketten ableiten können. Das wird in dem Moment möglich, in dem wir eines der Kerninstrumente der linguistischen Generali­sierung ins Spiel bringen, nämlich Klassen, im konkreten Fall Klassen von Wörtern, sprich lexikalische Kategorien. Wenn wir den Baum in Abbildung 3 ) um Wortklassen erweitern, erhalten wir folgende Struktur:

Abbildung 4 : Erweiterte Dependenzstruktur ein sehr reicher Mann

Auf solchen Strukturen aufbauend, können wir die Definition für Phrasen wie folgt renotieren:

X-Phrase: Eine X-Phrase konstituiert sich aus dem Kopf X plus – falls vorhanden – den von ihm abhängigen Elementen. Es gilt X = Nomen, Verb, Adjektiv, Präposition (die sog. major categories) [Adv].

Mit dieser erweiterten Definition erhalten wir eine genaue Vorstellung darüber, was eine NP, eine AP, eine PP usw. genau ausmacht: eine NP ist eine Phrase, deren Kopf ein Nomen ist. Eine AP ist eine Phrase, deren Kopf ein Adjektiv ist. usw. Um Phrasen erweitert können wir den Baumgraph aus Abbildung 4 ) also wie folgt renotieren:

Abbildung 5 : Dependenz & Konstituenz in ein sehr reicher Mann

Wenn wir die Ebene der terminalen Konstituenten ausblenden, erhalten wir ein generalisiertes Muster für wohlgeformte Ketten, nämlich [Det [Adv A]AP N]NP.

Der für uns wichtige Punkt ist, dass wir über die Definition von »X-Phrase« den Kopf als deren zentrales Element etabliert haben: es ist das jeweils regierende Element innerhalb der Konstituente, das deshalb der Phrase ihren Namen verleiht. Nachstehend die Information der Struktur aus Abbildung 5 ) als Text:

  • ein sehr reicher Mann: Kopf Mann (N, also ist es eine NP), abhängig der Det ein und die AP sehr reicher,
  • sehr reicher: Kopf reicher (A, also ist es eine AP), abhängig das Adv sehr.

Vertrauter wird Ihnen für dieselbe Information die nachstehende Darstellung sein, aus der in dieser Form aber nur mittelbar, nämlich über die Bezeichnung der Phrase hervorgeht, was der Kopf ist:

Abbildung 6: Phrasenstruktur ein sehr reicher Mann

An dieser Stelle können wir nun zwei zentrale Aspekte des Konzeptes »Kopf« herausarbeiten, die auch für die Beschreibung von Wortstrukturen eine zentrale Rolle spielen:

  1. Der Kopf determiniert, zu welcher Kategorie die Phrase gehört, deren Kopf er ist.
  2. Die Phrase erhält ihre kategorialen Merkmale vom Kopf.

Punkt (B) kann gut verdeutlich werden anhand von Ketten wie z.B. der Nominalphrase

  1. die Katzen meiner Freundin,

bei der man sich vielleicht fragt, welches der beiden Nomen der Kopf ist. Wenn wir die Kette in einen Kontext stellen, sehen wir, dass Katzen der Kopf sein muss, weil Katzen die für die Phrase relevanten morphologischen Merkmale trägt, konkret das Numerusmerkmal plural, während Freundin im Singular steht:

  1. [Die Katzen meiner Freundin]  zu dick.

Zu guter Letzt ist der Kopf einer Phrase auch verantwortlich für deren Distribution: in die Leerstelle des folgenden Satzes passt nur eine NP:

  1. Ich habe in den Ferien ____ gefüttert.
  2. Ich habe in den Ferien  gefüttert.

Kopf

Mit den bisherigen Ausführungen im Hinterkopf ist die vollständige Definition für Köpfe leicht zu verstehen:

Kopf: Der Kopf einer Konstituente determiniert Vorkommen, Form und Typ der von ihm abhängigen Elemente. Gleichzeitig determiniert er die kategorialen und morpho­syntaktischen Eigenschaften der Konstituente, deren Kopf er ist, sowie deren Distribution.

Hierarchische Strukturen in Wörtern

Köpfe in Komposita

Wie Sie dem 7. Kapitel aus unserem Lehrbuch[4] entnehmen können, ist im Bereich der morphologischen Analyse von Wörtern ebenfalls die Rede von hierarchical structure(s) und head(s).

Verdeutlicht wird dieses zunächst am Beispiel eines bestimmten Typs von zweigliedrigem Kompositum (für mehr Info zu diesem Wortbildungstyp sehen Sie den Text Komposita auf unserer Webseite), wie z.B. den Wörtern

  1. Großmeister
  2. denkfähig.

Auf diese Komposita lässt sich genau das anwenden, was im zweiten Satz der Kopf-Definition aufgeführt ist. Die Kombination von [groß]a und [Meister]n resultiert in einem Nomen. Die Kombination von [denk-]v und [fähig]a resultiert in einem Adjektiv. In beiden Fällen ist es also das Zweitglied, dessen Kategorie übereinstimmt mit der Kategorie des Kompositums, d.h. nach der Definition haben jeweils [Meister] und [fähig] Kopfstatus:

Abbildung 7: Kompositastrukturen 1

Beachten Sie, dass in diesen Strukturen der Kopf durch eine doppelt gezogene Linie herausgestellt wird.[5] Auch Komposita, die sich aus Gliedern derselben Kategorie konstituieren, können wir diese Argumentation angedeihen lassen. In dem N-N Kompositum

  1. Hausdamen,

das im Plural steht, trägt das Zweitglied das fragliche Merkmal – nicht das Erstglied:

  1. *Häuserdame.
Abbildung 8: Annotierte Kompositumstruktur

Die bis jetzt besprochenen Faktoren für die Etablierung des Kopfes in Komposita waren formaler Natur, insofern sie auf kategorialen sowie Flexionseigenschaften beruhten. Entsprechend würden wir diese Köpfe als »formale« oder »strukturelle« Köpfe bezeichnen (formal head im Lehrbuch).

In den besprochenen Fällen korrelieren diese auch mit den »semantischen« Köpfen (semantic head). Darunter zu verstehen ist – sehr informell ausgedrückt – das, worum es im Kompositum primär geht: ein Großmeister ist eine bestimmte Art von Meister, denkfähig ist eine bestimmte Art, fähig zu sein, Hausdamen sind eine bestimmte Art von Damen. Was aber wäre der semantische Kopf in Komposita wie

  1. Bücherwurm oder
  2. Ulknudel?

Dass [Wurm]N bzw. [Nudel]N formal betrachtet Köpfe sind, ist relativ klar, wenn man sich die Flexions­eigenschaften der Gesamtkonstruktion ansieht. Semantisch betrachtet aber kann hier – zumindest bei der üblichen Lesart – von einem Kopf nicht die Rede sein, da ein Bücherwurm nicht eine bestimmte Art von Wurm ist, sondern eine Person; eine Ulknudel nicht ein bestimmte Art von Nudel, sondern ebenfalls eine Person. In diesem Fall würden wir sagen, dass das Kompositum zwar einen formalen, aber keinen semantischen Kopf aufweist. Im Gegensatz dazu gibt es Komposita wie die nachstehenden, die über zwei semantische, aber keinen eindeutigen formalen Kopf verfügen:

  1. schwarz-gelb oder
  2. Bar-Restaurant,

Der Frage, wie die Baumgraphen von Komposita wie in (19)-(22) genau aussehen sollten, sprich in solchen Fällen, in denen kein 1-zu-1 Abbildungsverhältnis vorliegt zwischen formalem und semantischem/n Kopf/Köpfen, gehen wir hier nicht detailliert nach. Wenn wir uns in Baumgraphen auf die Kennzeichnung des formalen Kopfes konzentrieren, bekämen wir die folgenden Strukturen (achten Sie auf die Kopflinien):

Abbildung 9: Kompositastrukturen 2

Was mehrgliedrige Komposita angeht, so lässt sich feststellen, dass diese i.a.R. eine hierarchische Konstitutenten­struktur aufweisen derart, dass bestimmte Teile innerhalb der Einheit »Kompositum« eine Untereinheit bilden. Beispiele aus dem Deutschen:

  1. Bushaltestelle: [[Bus] [[halte] [stelle]]], Bahnsteigkarte: [[[Bahn] [steig]] [karte]]
Abbildung 10: Kompositastrukturen 3

Köpfe in Derivationen

Auch in abgeleiteten Wörtern lassen sich Köpfe bzw. hierarchische Strukturen ausmachen. Nach den bisherigen Ausführungen müsste eigentlich auch klar sein, was Kopfstatus hat in Wörtern wie

  1. lesbar, Tapezierer, ackern, Schönheit:

Es kann nur das Derivationssuffix sein, da dieses einerseits die Form (hier: die Wortart) der Basis vorgibt:

  1. -bar fordert eine verbale Basis
  2. -heit fordert adjektivische Basis etc.

Andererseits gibt das Derivationssuffix die lexikalische Kategorie der Derivation als Ganzes vor: dass lesbar ein Adjektiv ist, wird durch das Suffix -bar determiniert. Als Baum sähe das für die Wörter in (24) wie folgt aus; das Derivationssuffix ist jeweils kategorial annotiert:

Abbildung 11: Derivationsstrukturen

Bei Derivationen wie

  1. beladen, Kätzchen

stellen wir allerdings fest, dass der Affigierungsprozess eben nicht zu einer Änderung der Wortart führt: beladen ist ein Verb, wie auch laden; Kätzchen ist ein Nomen, wie auch Katze. Analoges liegt vor in Wörtern wie unsauber, missverstehen, versprechen usw. Tatsächlich ist es hier nicht so einfach, den Kopfstatus von be-, ‑chen, un-, miss- und -schaft zu begründen. Bei einer nominalen Ableitung können wir ggf. noch formal argumentieren, dass das Derivationssuffix insofern die Gesamtkonstruktion determiniert, als es beispielsweise deren Genus-Merkmal bestimmt, vgl. Katze[fem]Kätzchen[neut]. Bei vielen Derivationen, so auch den verbalen und adjektivischen Formen in (27), ist diese Argumentation aber nicht in der gleichen Form anwendbar. Entsprechend wird am Ende des 7. Kapitels im Lehrbuch auch deutlich gemacht, dass die Eigenschaften von Köpfen in Satzstrukturen nicht in Gänze so sind, wie die Eigenschaften von Köpfen in Wörtern, d.h. die Analogie Syntax-Morphologie trifft zu einem gewissen Grad bei Komposita zu, ist bei Derivationen aber nicht einfach aufrecht zu erhalten. Darauf kommen wir noch zurück.

Ambiguitäten

Zum Abschluss noch ein Hinweis darauf, dass in seltenen Fällen ein mehrgliedriges Wort  mehr als nur eine Struktur aufweisen kann. Ist das der Fall, sprechen wir von struktureller Ambiguität bzw. Mehrdeutigkeit. »Mehr als eine Struktur« korreliert also in aller Regel mit »mehr als eine Bedeutung«. Das Beispiel aus unseremLehrbuch ist undoable. Nicht nur bei Derivationen, auch bei Komposita kann es zu struktureller Ambiguität kommen:

  1. Kinderfilmfestival:[[[Kinder] [film]] [festival]] (Festival mit Kinderfilmen) vs
      [[Kinder] [[film] [festival]]] (Filmfestival für Kinder)

Im Vergleich zur Syntax sind ambige Ketten in der Morphologie eher selten.

Anmerkungen

1Dieses ist eine klassische Definition von »Kopf«, die weiter unten noch erweitert wird.

2Dieses Gefühl kann trügen, wie Sie in der Syntax noch erleben werden.

3Brown, K. & Miller, J. (eds): 1996: Concise Encyclopedia of Syntactic Theories, Cambridge UK: Cambridge University Press, 71-75

4Haspelmath, Martin & Sims, Andrea D. (2010): Understanding Morphology. Routledge.

5In manchen (deutschen) Texten wird die fragliche Kante stattdessen durch ein »k« gekennzeichnet.