Wortarten

Einführung

In der Phonologie-Einführung haben wir mehrfach diskutiert, dass Generalisierung das A und O ist bei der Beschreibung und Analyse umfassender empirischer Datenbereiche: wir gehen zunächst von konkreten, beobachtbaren Einzelfällen aus, versuchen dann aber, diese derart zu verallgemeinern, dass wir mit wenigen Aussagen (a) alle der beobachteten Daten beschreiben und (b) Vorhersagen über noch nicht beobachtete Daten machen können.

Ein ganz zentrales Instrument bei diesem Vorgang ist die Klassenbildung: wir ordnen die Elemente der untersuchten Daten verschiedenen Kategorien zu (die Begriffe »Kategorie« und »Klasse« werden in der Linguistik häufig synonym verwendet, auch in diesem Text) und formulieren dann Regeln oder Wohlgeformtheits­bedingungen mit Bezug auf diese Kategorien, nicht mit Bezug auf die einzelnen Elemente, aus denen sie sich konstituieren. Eine der Grundeinheiten der phonologischen Beschreibung, sprich das Phonem, wurde in der Einführung bereits als Klasse von Lauten definiert. Über solche Klassen werden dann generalisiert Regeln oder Wohlgeformtheitsbedingungen formuliert. Die Auslautverhärtung im Deutschen beispielsweise wird beschreiben mit Bezug auf die Klasse »stimmhafter Obstruent«, nicht auf die einzelnen Laute [b, d, ɡ, v, z, ʒ]. Beschreibungen von Silbenstrukturen nehmen generalisiert Bezug auf Klassen wie Vokal und Konsonant, nicht auf einzelne Realisierungen dieser Klassen usw.

In der Phonetik ging es bei der Klassenbildung primär darum, Sprachlaute zu klassifizieren, und wie Sie in der Veranstaltung feststellen konnten, ist diese Aufgabe bis dato nicht so geklärt, dass man Ihnen das dicke Buch der Lautklassen in die Hand drückt, das Sie dann einfach lernten. Stattdessen wird bis heute im Bereich der (eher theoretischen) Phonologie diskutiert, auf welchen Faktoren genau denn die Klassenbildung basieren sollte und was die sinnvollste Herangehensweise bei der Klassifizierung ist. Anders ausgedrückt: wir arbeiten in der Phonologie mit Inventaren von Klassen, die konstanter Prüfung und Revision unterzogen sind, immer bemüht, ein noch besseres System zu entwickeln.

Diese Situation setzt sich auf den anderen Ebenen der Sprachwissenschaft fort, d.h. dass alle der in der Linguistik eingesetzten Kategorien in gewisser Weise eher vorläufigen Charakter haben: wir verwenden sie für die Beschreibung von Daten und für die Postulierung von Hypothesen über diese Daten, stellen dabei aber immer wieder fest, dass sie nicht angemessen sind, dass beispielsweise bestimmte sprachliche Phänomene mit ihnen nur ungenügend oder umständlich beschrieben werden können. An diesem Punkt setzt die Frage ein, ob es nicht vielleicht geeignetere Kategorieninventare geben könnte, die Analyse und Beschreibung besser unterstützen.

Genau die gerade beschriebene Situation liegt auch vor im Bereich der lexikalischen Kategorien, sprich der Klassen von Wörtern, und sie ist in dem Maße verkompliziert, als sie eine jahrtausendealte Geschichte aufweist, die bis zum heutigen Tage Einfluss hat auf die Art und Weise, wie wir Wörter klassifizieren.

Ein bisschen Historie

Bereits in der Grundschule ist Ihnen vermittelt worden, dass sich die Wörter einer Sprache in verschiedene Klassen einteilen lassen können, und Konzepte wie »Nomen«, »Verb«, »Adjektiv« usw. gehören in der Schule zum festen Inventar im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht. Ausgehend von der griechischen Grammatik­schreibung finden solche Klassen seit über 2.000 Jahren Verwendung,[1] wie die nachstehende Liste zeigt, die in Form von Papyrusrollen bei Ausgrabungen in Ägypten gefunden wurde, wahrscheinlich aus dem 1. Jh. n. Chr. stammt und somit eines der frühesten grammatischen Fragmente darstellt, das wir kennen (Law 2003: 55–57):

Grammatikfragment 1. Jh. n. Chr.:[2]

The proper noun is a word form which signifies the individual nature of an object or concept, without tense but with cases, such as 'Homer', 'Paris'.

The common noun is a word form which applies to many objects, without person or tense, such as 'poet', 'person'.

The participle is a word form which takes articles and cases, and shows distinctions of tense, such as 'saying', 'known'. Hence it is called participle, in that it participates in aspects of both noun and verb.

The pronoun is a word form used demonstratively instead of the noun, assigning order to the persons, such as 'I', 'he'.

The article is a word form with case which is placed before or after another word inflected for case and shows distinctions of gender as in (in the nominative case) ho, hē, to 'the' [cf. German der, die, das]

The verb is a word form showing activity or receiving action with tense and person such as 'I write', 'it is being written' [these are single-forms in Greek: lego, graphetai]

The preposition is an uninflected word form which stands before the word classes in composition. These are the prepositions: ana 'up to', kata 'down to', dia 'through', meta 'after', para 'beside', anti 'against', amphi 'around', huper 'over' […]

The adverb is an uninflected word form which is placed before or after the verb and not compounded with it, signifying quantity, quality, time, place, negation, agreement, prohibition, exhortation ['Ermahnung', SH], interrogation, exclamation, comparison or doubt. Indicating quantity: 'frequently', 'rarely'. Quality: 'well', 'nicely'. Time: 'now', 'yesterday', 'tomorrow', Place: 'here', 'there' […]

The conjunction is a word form linking the parts of discourse. It is used with copulative, disjunctive, causal, rational, interrogative hypothetical, or expletive force. The following conjunctions are copulative: 'but', 'on the other hand', 'both…and', '…as also', 'and also'.

Etwas detaillierter beschrieben sind die von Dionysios Thrax in seiner Technē grammatikē 'grammatische Wissenschaft' vorgeschlagenen Klassen. Thrax, dessen Grammatik zeitlich gegen Ende des 2. und zu Anfang des 1. Jahrhunderts v.Chr. verortet wird[3] und der in keiner Einführung in den Bereich Wortklassifikation fehlt, liefert beispielsweise für Nomen, Verb und Präposition die folgende Beschreibung, hier ausschnittsweise sowohl in einer deutschen wie einer englischen Übersetzung wiedergegeben:[4] 

Nomen, Verb und Präposition bei Thrax

Das Nomen ist ein kasusbildender Satzteil, welcher ein Ding, z.B. Stein, oder eine Handlung, z.B. Erziehung bezeichnet, und allgemein, z.B. Mensch, Pferd, und besonders, z.B. Sokrates, gebraucht wird. Das Nomen hat 5 verschiedene Begleiterscheinungen: Geschlecht, Art, Form, Zahl, Kasus. (Arens 1969: 23)

A noun is a declinable part of speech, signifying something either concrete or abstract (concrete, as stone, abstract, as education); common or proper (common, as man, horse; proper, as Socrates, Plato). It has five accidents: genders, species, forms, numbers and cases. (Davidson 1874:8)

Das Verbum ist ein Satzteil ohne Kasus, empfänglich für Tempora, Personen, Numeri, Tätigkeit oder Leiden ausdrückend. […] Das Verbum hat acht Begleiterscheinungen: Modi, Genera, Arten, Formen, Numeri, Personen, Tempora, Konjugationen. […] (Arens 1969: 24)

A verb is an indeclinable word, indicating time, person and number, and showing activity or passivity. The verb has eight accidents: Moods, Dispositions (voices!), Species, Forms, Numbers, Tenses, Persons, Conjugations. […] (Davidson 1874: 11–12)

Die Präposition ist eine Wortart, die vor alle Satzteile treten kann, und zwar entweder in direkter Zusammensetzung oder in Zusammenstellung […] (Arens 1969: 25)

A Preposition is a word placed before any of the parts of speech, both in Composition and in Syntax. […] (Davidson 1874:14)

Thrax ordnet den diversen Klassen sogenannte »Akzidenzien« oder »Begleiterscheinungen« zu, im Falle der Nomina sind dies die sekundären nominalen Kategorien Geschlecht, Art, Form, Zahl und Kasus. Geschlecht (Genus), Zahl (Numerus) und Kasus sind auch heutzutage geläufig, darauf gehen wir später im Seminar noch ein.

Hinsichtlich der Form differenzierte Thrax unter anderem einfache Formen (»Simplex«) wie Memnon von zusammengesetzten (»Compositum«) wie Agamemnon, d.h. er nahm Bezug auf die möglichen Kompositions­prozesse, die eine Wortform durchlaufen hat.

Unter der Bezeichnung »Art« schließlich unterschied Thrax ursprüngliche bzw. primitive von abgeleiteten bzw. derivativen Nomina; das Beispiel, das er verwendet, ist Erde vs. erdgeboren. Hier merken Sie hoffentlich auf und denken – Moment mal, erdgeboren ist doch kein Nomen. Tatsächlich wurden Adjektive und Nomina in antiken Grammatiken in einer einzigen Klasse erfasst, die dann die beiden Unterklassen »nomen substantivum« und »nomen adjectivum« umfasste. Vielleicht haben Sie sich ja schon mal gefragt, warum insbesondere in deutschen Fachtexten die Begriffe »Nomen« und »Substantiv« miteinander konkurrieren – jetzt kennen Sie einen Grund dafür: diese Nomenklatur hat mit der traditionellen Einteilung zu tun. Während der Begriff »Substantiv« in der romanischen und der anglo-amerikanischen Sprachwissenschaft am Verschwinden ist, wird er im Deutschen noch relativ häufig verwendet:

Vieles von dem, was in den antiken Beschreibungen steht, ist über die Jahrhunderte hinweg konstant geblieben. Nachstehend sehen Sie Ausschnitte aus typischen Beschreibungen verschiedener Wortarten aus einer englischen Grammatik aus dem 18. Jahrhundert (Francis 1790) und einer deutschen Schulgrammatik aus dem 19. Jahrhundert (Berlitz 1895):

Beschreibungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert

A Noun, or Substantive, is the Name of any Substance, or Thing, that is perceptible by either of our Senses; as Man, Tree, Book; also Colours, Sounds, Taste, Fragrance, &c.      
A Noun admits of Number, Case and Gender [...]

An Article is set before a Noun to determine its Signification.

An Adjective is a Word added to a Substantive to express its Quality […] Adjectives are varied only by the Degrees of Comparison.

A Verb expresseth being or acting […] An active Verb signifies doing […]. A neuter Verb signifies merely Being. [...] In a Verb are confided the Mode, the Tense or Time, the Person and the Number. (Francis 1790: 12–16)

Substantiv oder Hauptwort: ein Wort, das als Benennung dient: z.B. Tisch, Wald, Hoffnung, Karl.

Adjektiv oder Eigenschaftswort: ein dem Substantiv zur näheren Bestimmung oder Beschreibung beigefügtes Wort: der fleißige Schüler lernt. (Berlitz 1885: 1-2)

Verb oder Zeitwort: das Wort, welches von dem Subjekt etwas aussagt, oder die Aussage mit dem Subjekt verbindet, gewöhnlich ein Zustand oder eine Handlung: der Knabe springt [...] (Berlitz 1895: 1–2)

Die Frage, die sich nun stellt, ist folgende: können wir die unterschiedlichen Faktoren, die in der traditionellen Grammatik zur Bildung von Wortklassen dienten, aus den obigen Exzerpten herauskristallisieren –  und sind diese Faktoren auch heutzutage noch relevant?

Faktoren für die Bildung von Wortklassen

Wenn Sie sich die die Angaben aus dem Grammatikfragment, die Definitionen von Thrax und die Angaben aus dem 18. und 19. Jahrhundert ansehen, können Sie relativ leicht feststellen, dass es im Wesentlichen vier Ebenen sind, die bei der Beschreibung der Klassen eine Rolle spielten, nämlich:

  1. die semantische Ebene, in der es um Bedeutung der fraglichen Wörter geht,
  2. die morphologische Ebene, in der es primär um die Flexionseigenschaften der fraglichen Wörter geht,
  3. die syntaktische Ebene, in der es um die Stellung der fraglichen Wörter relativ zu anderen Wörtern geht,
  4. die satzfunktionale Ebene, in der es um die propositionale Funktion der fraglichen Wörter geht.

Ebenen (A) und (D) können grob als funktionale Ebenen; (B) und (C) dagegen als formale Ebenen eingeordnet werden. Beispiele:

Semantisch
  • the verb is a word form showing activity or receiving action (Grammatikfragment)
  • das Nomen ist ein [...] Satzteil, welcher ein Ding, z.B. Stein, oder eine Handlung, z.B. Erziehung bezeichnet (Thrax)
  • an Adjective is a Word added to a Substantive to express its Quality (Francis)
Morphologisch
  • the article is a word form with case (Grammatikfragment)
  • das Verbum ist ein Satzteil ohne Kasus, empfänglich für Tempora, Personen, Numeri (Thrax)
  • Adjectives are varied only by the Degrees of Comparison. (Francis)
Syntaktisch
  • the preposition is a [...] word form which stands before the word classes in composition (Grammatikfragment)
  • the adverb is a [...] word form which is placed before or after the verb (Grammatikfragment)
  • an Article is set before a Noun (Francis)
Satzfunktional:
  • Substantiv: Wort, das als Benennung dient (Berlitz)
  • Verb: [...] Wort, welches von dem Subjekt etwas aussagt (Berlitz)

Diese Analyse ist für Sie insofern wichtig, als sie Ihnen ein Instrument für das Verstehen und Beurteilen verschiedener Systeme der Wortklassifikation in die Hand gibt: diese unterscheiden sich im Wesentlichen dadurch, dass jeweils unterschiedliche dieser Ebenen als primär oder zentral betrachtet werden. Dazu gleich noch mehr.

Nachstehend wollen wir diese einzelnen Ebenen fragmentarisch anreißen und kurz einige der Probleme diskutieren, die bei ihnen auftreten.

A) Semantische Ebene

Unter dieser Überschrift ist das versammelt, was Ihnen bereits in der Grundschule mit Merksätzen wie »Verben bezeichnen Handlungen« oder »Adjektive bezeichnen Eigenschaften« vermittelt wurde. Hier geht es um die Bedeutung der prototypischen Mitglieder einer Wortklasse, und diese Art Beschreibung hat, wie Sie den Beispielen weiter vorne entnehmen können, eine lange Tradition, die sich über die Jahrhunderte hinweg bis heute bewahrt hat. Auch in der Schule sind Termini wie z.B. »Dingwort« für Nomina oder »Tuwort« für Verben gang und gäbe. Tatsächlich gehört es zum täglichen Brot in der universitären Linguistik-Lehre, auf die Frage »was ist ein Nomen« die Antwort »ein Wort, das einen Gegenstand bezeichnet« zu erhalten, womit die Antwort leider häufig erschöpft ist.

Problematisch sind hier unter anderem die folgenden Punkte: derartige Beschreibungen

  • treffen nicht auf alle Elemente der Klasse zu (bezeichnet das Nomen Rumgetanze nicht eher eine Tätigkeit als ein »Ding«?)
  • gruppieren Elemente, die sich formal erheblich voneinander unterscheiden können (wenn wir eine semantisch-basierte Klasse »Numerale« annehmen, also eine Klasse von Wörtern, die in irgendeiner Form mit Quantifikation zu tun haben – würden darunter nicht z.B. sowohl die Nomina Hälfte oder Drittel als auch die Verben verdoppeln oder verdreifachen und auch die Adverbien zweimal und dreimal zählen?
  • können letztlich sinnvoll nur bei Klassen wie Nomen, Verb und Adjektiv angewendet werden (was sollte die »Kernbedeutung« sein von Wörtern wie das, ein, zu oder sehr?)

Dass es mit einer rein semantisch basierten Klassifikation Probleme gibt, ist keine neue Erkenntnis, wie das folgende Zitat aus dem Jahr 1754 treffend belegt:

Die Erklärungen oder definitiones in der Grammatik, so sie deutlich und ungezwungen seyn sollen, sind schwerer, als in anderen Wissenschaften. In diesen hat man nur mit Sachen zu thun. In jener aber hat man Wörter vor sich, die da Zeichen der Sache sind. Sieht man nur auf die Sache, so wird eine Verwirrung daraus. Denn unterschiedliche Teile der Rede können einerley [= die gleiche] Bedeutung haben; als: Änderung, ändern, geändert, änderst. Mit Eigenschaften, Umständnissen, Verhältnissen kommt man allein auch nicht aus. Viel subtantiua, adjectiua und aduerbia bedeuten Eigenschaften; Umständnisse und Verhältnisse finden sich in aduerbiis, praepositionibus und coniunctionibus. Das nomen ist, wie wir gehört haben, das subiectum: aber es kommt auch im praedicatio immer mit vor. [...] Z.B die gemeine Beschreibung des verbi heißt: es bedeutet ein Thun oder Leiden. Eben dergleichen bedeuten auch die Arbeit, das Zahnweh. Die nähere Einschränkung ist: man kann dazu setzen: ich, du, er usw. Ich kann aber auch sagen: Ich Sünder, du Sünder. Endlich sagt man, das uerbum zeigt zugleich eine Zeit an; aber noch nicht genug: denn man spricht auch: Wir träumende, ihr hergelauffene. Da man nur hier-innen fünf muß gerade seyn lassen: so wollen wirs wagen, was wir zu Wege bringen können. (Aichinger 1754: 121–122)

B) Morphologische Ebene

Im Grammatikfragment werden common nouns (Appellativa) als Wörter without person or tense beschrieben; Artikel als Wörter with case, Verben als Wörter with tense or person, Präpositionen als uninflected usw. Thrax gibt genau an, welche Flexionsattribute für Nomina und Verben relevant sind. Zusätzlich spielt bei Thrax auch die Frage nach Wortbildungseigenschaften eine gewisse Rolle, so unterscheidet er bei den Nomina wie gesehen zwischen einfachen Formen und Komposita. Sowohl Flexions- als auch Wortbildungsfaktoren können unter der Überschrift »morphologische Form« subsumiert werden, und diese war in der Tat das zentrale Kriterium bei der Klassifikation in der traditionellen Grammatik:

Durch die hier wiedergegebenen Definitionen und Charakterisierungen wird deutlich, dass die Einteilung der Wortarten zuerst auf morphologischen Eigenschaften basiert ("kasushaltig", "kasuslos", "Akzidentien", "Simplex" vs. "Kompositum"), die – wo möglich – durch Angabe semantischer Eigenschaften ergänzt werden. Dies trifft für Nomen und Verb zu. Als morphologische Eigenschaften werden dabei vornehmlich Flexionseigenschaften […] angeführt, aber auch Wortbildungseigenschaften der Derivation und Komposition […]. Partizip, Artikel und Pronomen werden – abgesehen von ihrer Beziehung zu anderen Wortarten – ausschließlich über morphologische Eigenschaften, und zwar primär über Flexionseigenschaften definiert. (Rauh 2011: 16)

Unterschiedliche Wortarten sind für unterschiedliche Flexionskategorien empfänglich, und diesbezüglich sind die Konzepte »Deklination« einerseits; »Konjugation« anderseits von zentraler Bedeutung: »Deklination« umfasst die Flexion nach Genus, Kasus und Numerus, »Konjugation« nach Numerus, Person, Tempus, Aspekt, Modus, Genus Verbi und ggf. Aktionsart. Hier erhalten wir einen Fingerzeig darauf, wieso Nomina (bzw. Substantive) und Adjektive derselben Klasse zuordbar sind – im Griechischen (wie auch im Lateinischen und Deutschen) werden beide Wortarten dekliniert. Dieser Punkt unterstreicht, welches Gewicht auf die morphologische Form gelegt wurde: die Unterschiede zwischen diesen Klassen (beispielsweise in der Syntax, aber auch hinsichtlich ihrer Funktion) wurden im Vergleich zu den Gemeinsamkeiten als nachrangig interpretiert.

Der hohe Stellenwert, den der Faktor »morphologische Form« in der Wortartenklassifikation inne hatte, kann bis ins 20. Jahrhundert hinein nachverfolgt werden. So wurde noch im 19. Jahrhundert analytischen Sprachen wie z.B. dem Chinesischen von manchen Autoren abgesprochen, dass sie überhaupt Wörter hätten, geschweige denn Wortarten oder eine Grammatik:

Die chinesische Sprache hat keine Wörter, ihr Satz baut sich nicht aus Wörtern auf. […] Steht aber fest, daß die Satzglieder im Chinesischen nicht Wörter sind, so fällt für diese Sprache auch die Anwendung der Redetheile und der Flexionsformen weg. Wo kein Wort ist, kann kein Substantivum und Verbum sein, keine Declination und Conjugation. (Steinthal 1860:113)

Tatsächlich gibt es auch in der moderneren Sprachwissenschaft Versuche, die Wörter einer Sprache primär auf Grundlage ihrer morphologischen Form zu kategorisieren. Ein Beispiel dafür ist das Wortartenschema nach Glinz aus den 50-60er Jahren des letzten Jahrhunderts, dessen Hauptklassen exklusiv auf morphologischen Kriterien basieren. Das nachstehende Schema ist an dieser Klassifikation orientiert (vgl. Glinz (1965 [1952])):

Der Vorteil einer solchen Herangehensweise ist, dass man ohne Bezug auf die in Teilen doch schwer zu präzisierenden semantisch-funktionalen Faktoren auskommt – dieses System operiert ja primär auf Basis formaler Parameter. Es ist also verständlich, dass diese Art Einteilung u. a. Einfluss genommen hat auf die Wortartenklassifikation in der Duden-Grammatik (siehe Duden:88 und Schüler-Duden:34–35).

Für die allgemeine Sprachwissenschaft ist dieses Modell aber viel zu einzelsprachenspezifisch. Die obige Einteilung würde beispielsweise schon bedeuten, dass die deutschen Wörter fett, groß und weich und ihre englischen Entsprechungen fat, tall und soft in verschiedenen Klassen einzuordnen wären – englische Adjektive können zwar gesteigert werden (fatter, taller, softer), sind aber weder nach Kasus deklinierbar noch haben sie ein variables Genus. Für die weiter oben gestellte Frage nach der Klassifikation von Wörtern wie z.B. mit, ohne und durch könnte eine solches System in einer Einzelsprache jedoch eine Antwort liefern. Analytische Sprachen wie das bereits erwähnte Chinesisch oder das Vietnamesische, das Bambara oder das Haitianische und viele andere können auf diese Weise aber gar nicht recht erfasst werden.

C) Syntaktische Ebene

Wenn Sie sich im Grammatikfragment die Beschreibungen für Artikel, Adverbien und Präpositionen ansehen, erkennen Sie einen dritten Faktor, der bei der Klassifikation zum Tragen kommt. Bei den Artikeln wird Bezug genommen auf die Platzierung before or after another word inflected for case; eine Präposition stands before the word classes in composition und Adverbien werden before or after the verb positioniert. Hier geht es um die Stellung, die ein Wort innerhalb eines Satzes einnimmt bzw. einnehmen kann und um die Wörter, die ihm vorausgehen oder folgen, also um die syntaktischen Eigenschaften eines Wortes. Dieser Faktor hat in der Grammatikbeschreibung lange Zeit eine sehr nachrangige Rolle gespielt; eine Situation, die sich in jüngerer Zeit grundlegend verändert hat. Eine mit dieser Entwicklung eng verbundene Forschungsrichtung ist die des sog. »Distributionalismus« (von lat. distributio 'Verteilung'), einer recht einflussreichen Variante des (amerikanischen) Strukturalismus, der im ersten Viertel des 20. Jh. an Fahrt aufnahm um mit Namen wie Leonard Bloomfield, Edward Sapir und Zellig Harris verbunden ist. Wie der Name schon sagt, gilt hier die Verteilung der Elemente in sprachlichen Äußerungen als Kernkriterium für die Klassenbildung, und obwohl Ihnen das vielleicht etwas abstrakt vorkommt, kennen Sie bereits eine Möglichkeit, Distribution als Faktor der Klassenbildung zu verwenden:  denken Sie einfach an die Definitionen für das Phonem oder das Morphem, bei denen die Verteilung (komplementär vs. freie Variation) der jeweiligen Phone bzw. Morphe essentiell ist für die Bildung der jeweiligen Klasse.

Im Rahmen der Wortartenklassifikation kann man Distribution beispielsweise so einsetzen, dass man alle Elemente, die dieselbe Distribution aufweisen, sprich die Menge der Umgebungen teilen, in denen sie auftreten können, in einer Klasse zusammenfasst. So können z.B. die Wörter

(1) boring, heavy, tiring, long, difficult und important

allesamt in den Umgebungen

  • a ____ book,
  • this article is ____ oder
  • I don't like ____discussions

vorkommen –  sie haben dieselbe Distribution und können auf dieser Basis in einer Klasse zusammengefasst werden. Die Verteilung von Wörtern kann insbesondere dann relevant sein, wenn die anderen Faktoren, sprich Funktion und/oder Form, nicht eindeutig sind. In dem Satzpaar

(2) They light the candles.

(3) She left the light on.

ist allein die Stellung entscheidend dafür, ob wir light als Verb wie in (2) oder als Nomen wie in (3) klassifizieren.

Ähnlich wie im Bereich der morphologischen Form gab es auch hier Versuche, das Kriterium »Distribution« als primäre und/oder alleinige Grundlage für die Klassifikation von Wörtern einer Einzelsprache zu verwenden. Ausgangspunkt dafür waren Überlegungen wie die folgenden:

Da nicht alle Wortarten differenzierende Formmerkmale [...] und auch nicht alle Wortarten einen gemeinsamen direkten Wirklichkeitsbezug haben [...], wohl aber jede Wortart durch ihre syntaktische Funktion im Relationsgefüge des Satzes determinierbar sein muss, ergibt sich daraus für uns die Forderung nach einer syntaktischen Klassifizierung der Wortarten.  (Helbig 1977: 90)

Eine der ersten (und einflussreichsten) Arbeiten, die diese Forderung konsequent durchzuführen versuchte, ist Methods in structural linguistics von Zellig Harris (Harris 1951). In dieser Arbeit wird ein Korpus sprachlicher Daten so durchanalysiert, dass für jedes Morphem alle Umgebungen, in denen es auftritt, bestimmt werden. Diese Mengen von Umgebungen werden miteinander abgeglichen und die Morpheme, deren Umgebungen identisch sind, in einer Klasse gruppiert. Eine Alternative dazu besteht darin, dass individuelle Morpheme in einem spezifischen Kontext durch andere Morpheme ersetzt (»substituiert«) werden. Wenn das Resultat nicht ungrammatisch ist, die Morpheme also füreinander austauschbar sind, können sie als einer Klasse zugehörig gerechnet werden.

Eine weitere in diesem Kontext erwähnenswerte Arbeit (die heute genauso in Vergessenheit geraten ist wie ihr Autor) ist The structure of English. An Introduction to the Construction of English Sentencesvon Charles Carpenter Fries (Fries 1952). Auch dieses Werk kann als gutes Beispiel dafür gesehen werden, was man unter »Distributionsanalyse« versteht und stellt ebenfalls die konsequente Umsetzung einer syntaktisch basierten Wortartenklassifikation dar. Fries hat eine Reihe sog. »Frames« 'Rahmen' entwickelt, innerhalb derer er Wörter füreinander substituierte. »Frame A« beispielsweise hat die folgende Form (Fries 1952: 78):

(The) ___        is/was good

___s      are/were good

Wörter, die in diesem Rahmen »funktionieren«, rechnete Fries zu »Class 1«, dazu zählen, wie Sie leicht prüfen können, beispielsweise concert, food, coffee, taste, report, lesson, family, container usw. Sie sehen, dass hier genau die gleiche Methode angewendet wird, wie weiter oben bei den Wörtern in (1).

Allerdings konnte sich auch diese Herangehensweise nicht durchsetzen, weder für eine Einzelsprache, noch insbesondere im Sprachvergleich: auch hier gilt, wie bei der Klassifikation auf rein morphologischer Basis, dass die syntaktischen Regelhaftigkeiten der diversen Sprachen zu unterschiedlich sind, um diese Methode übereinzelsprachlich sinnvoll nutzen zu können.

Wenn wir im Deutschen beispielsweise die Adjektive beschreiben als Klasse von Wörtern, die dem Nomen vorausgehen (schönes Haus, neues Auto, guter Lehrer usw.), bekämen wir im Swahili, in dem das Adjektiv auf das Nomen folgt, Probleme:

(4) ny-umba n-zuri

cl9-Haus cl9-schön

'schönes Haus'

(5) gari ji-pya

cl5.Auto cl5-neu

'neues Auto'

(6) mw-alimu mw-ema

cl1-Lehrer cl1-gut

'guter Lehrer'

D) Satzfunktionale Ebene

In diesem Punkt geht es um die Aufgabe, die einzelne Formen in einer kommunikativen Situation erfüllen (können). Ausgangspunkt für unsere Überlegung ist die Annahme, dass man sprachliche Ausdrücke wie z.B. die Deklarativsätze

(7) Der große Hund bellt.

(8) Der Hund beißt die kleine Katze.

als Elemente verstehen kann, die jeweils eine Proposition realisieren. Unter »Proposition« können wir etwas vereinfacht die Darstellung eines bestimmten Sachverhaltes sehen, der ein Wahrheitswert zugeordnet werden kann: sie ist entweder falsch oder wahr. Wenn wir nun die Produktion einer Proposition, beispielsweise in Form eines Satzes, als sprachliche Handlung begreifen, sozusagen als einen propositionalen Akt, und die Elemente, aus denen sich dieser zusammensetzt, etwas genauer unter die Lupe nehmen, können wir diese Elemente drei großen Diskursfunktionen zuordnen:

  1. Referenzieren: »Referenz« von lat. referre 'zurückgehen, zurücktragen' wird in der Linguistik, genauer der Semantik, mit zwei Bedeutungen verwendet: zum einen steht der Begriff für die Beziehung zwischen dem sprachlichen Ausdruck und dem, wofür dieser steht, zum anderen für einen entsprechenden Akt der Bezugnahme. In Satz (7) erfüllt die Kette der große Hund diese Funktion; in Satz (8) die Ketten der Hund sowie die kleine Katze: wir benutzen diese Elemente, um damit auf spezifische Entitäten der außersprachlichen Realität Bezug zu nehmen. Diese Elemente werden entsprechend als »Referenz­ausdrücke« bezeichnet.
  2. Attribuieren: von lat. attribuere 'zuteilen, zuweisen' bezeichnet, wie die Übersetzung der lateinischen Form schon besagt, die Zuweisung bestimmter Eigenschaften an (konkrete oder abstrakte) Entitäten. In Satz (7) erfüllt das Adjektive große und in Satz (8) das Adjektiv kleine diese Aufgabe: in beiden Fällen werden den fraglichen Objekten, also den Appellativa Hund bzw. Katze, spezifische Eigenschaften zugewiesen. Attribuierung hat eine ganz wichtige Funktion wenn es darum geht, die Menge der Objekte, auf die man sich mit einem Appellativum bezieht, einzuschränken: wir »picken« aus der Menge der Hunde die Teilmenge der großen Hunde heraus; aus der Menge der Katzen die der kleinen Katzen. Fachsprachlich würde man sagen, dass Attribuierung dazu dient, die Denotation eines Ausdrucks zu restringieren.
  3. Prädizieren: von lat. praedicatio 'Aussage': für diesen Punkt müssten wir eigentlich etwas ausholen, da Begriffe wie »Prädikation« oder »Prädikat« nur in einem längeren Text gründlich geklärt werden können. Sehen Sie für einen studierendengerechten Einstieg vielleicht Hackmack(2000)[5] . Sehr informell ausgedrückt geht es bei dem Prädizieren um die Kernfunktion bei der Bildung von Propositionen: wenn wir prädizieren, treffen wir Aussagen über Referenzausdrücke, und zwar genau solche Aussagen, die entweder falsch oder wahr sein können. In Beispielsatz (7) prädizieren wir, machen also eine Aussage über der große Hund (nämlich dass dieser bellt); in Satz (8) prädizieren wir, machen also eine Aussage über der Hund (nämlich dass dieser die kleine Katze beißt). Aus der Schulgrammatik ist Ihnen der Begriff »Prädikat« im Sinne von »Satzaussage« mit Sicherheit ein Begriff, und wenn wir »Prädikat« in unseren Beispielsätzen mit (7) bellt und (8) beißt die Katze gleichsetzen, sehen Sie gleich den Bezug zum Begriff »Prädizieren«

Eine Wortform wie beispielsweise rot kann also in zwei verschiedenen Funktionen auftreten: in der Kette der rote Ball dient sie zur Attribuierung, in der Kette ist rot in dem Satz der Ball ist rot dient sie (hier zusammen mit der Kopula ist) der Prädizierung.

Diese drei Grundfunktionen des propositionalen Aktes können mit großer Wahrscheinlichkeit als universal angesehen werden – in jeder Sprache der Welt wird die Notwendigkeit bestehen, sich (a) auf Dinge zu beziehen, also zu referieren (b) diese Menge der potentiellen Referenten durch Angaben spezifischer Eigenschaften einzugrenzen und (c) Aussagen über diese Referenten zu machen, beispielsweise darüber, was sie tun oder in welchem Zustand sie sich befinden.

Nach den bisherigen Ausführungen sollte klar sein, dass prototypische Elemente der Klassen Pronomina und Nomen, Verb und Adjektiv[6] , so, wie wir sie aus dem Deutschen oder Englischen kennen, recht gut auf die Funktionen Referenzieren, Prädizieren und Attribuieren abgebildet werden können. In dem Maße, in dem diese Funktionen als universal angesehen werden können, ist auch nachvollziehbar, dass diese drei Wortarten häufig zu den Hauptklassen (engl. major word classes) gerechnet werden.

Was aber ist mit Klassen wie Artikel oder Präposition? Diese können nur schlecht mit Satzfunktionen im eigentlichen Sinn Einklang gebracht werden. An dieser Stelle ist also festzuhalten, dass wir, wenn diese Funktionen die einzige Grundlage der Klassifikation wären, nur einen Teilbereich derjenigen Wörter angemessen klassifizieren könnten, die im Deutschen oder Englischen (oder Lateinischen oder Griechischen…) vertreten sind.

Mischklassifikation

Nach den bisherigen Ausführungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass in vielen allgemeingrammatischen, einzelsprachlichen Arbeiten im Bereich der Wortarten mit einer Mischklassifikation gearbeitet wird, d.h. dass für die Etablierung der Klassen weder (a) nur funktional/semantische noch (b) nur morphologische noch (c) nur syntaktische Kriterien eine Rolle spielen, sondern stattdessen alle drei Faktoren – möglicherweise unterschiedlich gewichtet – ineinandergreifen. Exemplarisch für das Deutsche stehen die nachstehenden Kurzinfos zu Verben, Substantiven und Präpositionen aus dem Grammatik-Duden (Duden 1998:88):

Wortart morphologisch

syntaktisch

semantisch/pragmatisch
Verb Konjugation Funktion: v.a. Prädikat,
Distribution: in Kongruenz mit dem Subjekt […]
Zustände, Vorgänge, Tätigkeiten, Handlungen
Substantiv Deklination Funktion: Subjekt, Objekt, adv. Best., Attribut
Distribution: mit Artikel
Lebewesen, Sachen, (Dinge), Begriffe (Abstrakta)
Präposition

 ­

Funktion: Präpositionalkasus
Distribution: vor Substantiven (Pronomen)
Verhältnisse, Beziehungen

Damit ist aber nicht gesagt, dass auf diese Weise in allen Fällen eindeutige Zuweisungen vorgenommen werden können. Dieser Umstand zeigt sich nicht zuletzt darin, dass dieselbe Wortform in verschiedenen Referenz­grammatiken des Deutschen durchaus unterschiedlichen Klassen zugeordnet wird. Ein Beispiel dafür wäre das Wort schön in

(9) Er ist schön

(10) Er lacht schön,

das in verschiedenen Grammatiken nur als Adjektiv, in anderen dagegen als Adjektiv in Satz (9), als Adverb in Satz (10) gezählt wird. Auch Fragen wie z.B. »gehören Artikel und Pronomina einer Klasse an oder nicht«, »ist es sinnvoll, ein Wort wie seit sowohl als Präposition, als auch als Adverb sowie als Konjunktion zu klassifizieren« sind noch nicht zufriedenstellend geklärt.

Klassen und Unterklassen

Anknüpfend an die vier Ebenen Semantik, Morphologie, Syntax und Satzfunktion können von den verschiedenen, auf einer Mischklassifikation basierenden Wortklassen auch diverse Unterklassen gebildet werden. Am Beispiel der Klasse »Verb« soll hier kurz und extrem unvollständig gezeigt werden, wie verschiedene solcher Subklassen aussehen können.

Semantik: die Unterscheidung zwischen Zustands- und Handlungsverben:
Er blieb in München (Zustand) | Er tanzte in München (Handlung).
Morphologie: die Unterscheidung zwischen finiten und nicht-finiten Verben
Er geht nach Hause (geht: finit), Er möchte nach Hause gehen (gehen: nicht-finit)
Syntax: die Unterscheidung zwischen intransitiven und transitiven Verben:
Er lacht (intransitiv), Er streichelt den Hund (transitiv)
Satzfunktion: die Unterscheidung zwischen faktiven und nicht-faktiven Verben

Sie behauptet, dass sie raucht. (behauptet: nicht faktiv. Der Nebensatz wird nicht als gegeben vorausgesetzt)

Sie bedauert, dass sie raucht. (bedauert: faktiv. Der Nebensatz wird als gegeben vorausgesetzt, was man u.a. daran erkennt, dass seine Bedeutung auch bei Negation des Hauptsatzes konstant bleibt: Sie bedauert nicht, dass sie raucht impliziert immer noch, dass sie raucht.)

Schluss

Die bisherigen Abschnitte haben gezeigt, dass unseren Möglichkeiten, Wörter zu klassifizieren, jeweils spezifische Grenzen gesetzt sind – Klassifikationssysteme primär auf Basis der formalen Faktoren Morphologie und Syntax sind beispielsweise sehr einzelsprachenorientiert, Systeme, die nur auf semantische Eigenschaften rekurrieren, sind uneindeutig. Die Systeme von Glinz oder Harris und Fries mögen aus heutiger Sicht verstaubt, antiquiert oder umständlich erscheinen. Diese Betrachtungsweise erfolgt allerdings von einem ziemlich hohen Ross und verkennt, dass der Impetus in allen Fällen die Erkenntnis war, dass das traditionelle System mit seiner Mischklassifikation Mängel aufweist, und dem Bestreben, dieser Mängel Herr zu werden. Dass es diese Mängel gibt, ist auch keine Erkenntnis des 21. Jahrhunderts, wie das weiter oben aufgeführte Aichinger-Zitat gezeigt hat.

Zum jetzigen Zeitpunkt werden Sie nichtsdestotrotz in den meisten sprachwissenschaftlichen Arbeiten auf (die guten, alten) Nomina, Verben, Adjektive und Co stoßen. Hier kommt das zum Ausdruck was in der Einführung bereits angedeutet wurde: wir arbeiten mit diesem Kategorieninventar, weil es sich in der Anwendung einigermaßen bewährt hat und bis dato kein besseres System entwickelt wurde.

Das bedeutet aber nicht, dass diesem Thema keine Beachtung geschenkt würde – im Gegenteil: die Wortartenklassifikation ist ein Dauerbrennerthema in der modernen Sprachwissenschaft, die Literatur zu diesem Gebiet würde eine ganze Bibliothek füllen. Auf die von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeiten vorgebrachten Argumente können wir an dieser Stelle nicht eingehen: das wäre Stoff für speziellere Seminare. Ein eher modernes Problem ist darin zu sehen, dass die heutige Linguistik ein im Vergleich zur früheren Zeiten recht diversifiziertes Forschungsgebiet darstellt, sich also in Unterbereiche spezialisiert hat, die erst im 20. Jahrhundert entwickelt wurden. Eingangs in diesem Text wurde Klassenbildung mit Generalisierung in Verbindung gebracht, das gilt für alle Bereiche, in denen Wörter kategorisiert werden. Allerdings können sich in Abhängigkeit davon, wofür die Klassen im jeweiligen Bereich benötigt werden, die Systeme recht erheblich voneinander unterscheiden. Wenn Sie sich zum Beispiel die Klassen ansehen, die (a) in Wörterbüchern für den Fremdsprachenunterricht, (b) in digitalen Sprachkorpora zur Annotierung von Wörtern und (c) in modernen Syntaxtheorien zum Einsatz kommen, werden Sie ganz erhebliche Unterschiede feststellen. Das nächste Beispiel soll diesen Punkt greifbar illustrieren, d.h. Sie brauchen gar nicht zu verstehen, was das Ganze im Einzelnen bedeutet, sondern nur erkennen, dass es gravierende Differenzen gibt:

Das Wort 'kicks' wird klassifiziert als...

  • Verb im PONS Englisch-Deutsch Wörterbuch online,
  • VVZ im Tagset des British National Corpus,
  • NP\S/NP in der Kategorialgrammatik,
  • [-N +V] in der Government-and-Binding-Theorie.

Eine Frage, die für Sie allerdings bereits jetzt sehr interessant ist und zum Abschluss noch erwähnt werden sollte, ist die nach der übereinzelsprachlichen Anwendbarkeit der Wortarten. Diese Frage wird keineswegs erst in jüngerer Zeit diskutiert, sondern stand immer dann im Fokus, wenn es darum geht, fremde bzw. »exotische« Sprachen zu beschreiben auf Basis der tradierten Kategorien.[7]Schön untermauert wird diese Aussage durch das folgende Zitat von Carl Meinhof, einem auf afrikanische Sprachen spezialisierten Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts:

We want to decline a noun, on the model of the Latin declension – mensa, mensam, mensæ, mensæ, mensa etc., and then we discover that some languages, instead of changing the termination of the noun, express the modifications indicated by declension through changes in the termination of the verb. Thus the study of these languages upsets our whole grammatical theory, built up, as it is in the main, on Latin grammar, and forces us to disregard, once and for all, the recognised forms and look at the facts alone for the psychological laws of human speech. (Meinhof 1915: 9–10)

Letztlich wird hier ein hochempfindlicher Punkt in der modernen Sprachwissenschaft angerissen: wie muss das Kategorieninventar aussehen, mit dem sich nicht eine spezifische, sondern alle Sprachen beschreiben lassen? Kann es angesichts der strukturellen Unterschiede zwischen den Sprachen so ein Inventar überhaupt geben?

Diesbezüglich ist die moderne Sprachwissenschaft nicht einer Meinung: eine Fraktion nimmt an, dass sich Konzepte wie (auf jeden Fall) Nomen und Verb und (ggf.) Adjektiv in allen Sprachen der Welt ausmachen lassen, mit solchen Klassen also eine Grundlage für den Sprachvergleich gegeben ist. Eine andere Fraktion dagegen vertritt die Ansicht, dass die Wortklassen keine universalen Konstrukte darstellen, sondern jeweils spezifisch und individuell für eine Einzelsprache ermittelt werden müssen. Auch dieser Frage wird hier nicht weiter nachgegangen, sondern stattdessen auf den auf der Webseite verlinkten Aufsatz How to compare major word-classes across the world's languages von Haspelmath (2012) verwiesen, der diese Diskussion kurz zusammenfasst und den letzten Punkt nicht nur vertritt, sondern auch eine Möglichkeit vorstellt, wie das Gemeinsame der Sprachen trotz der beobachteten Unterschiede erfasst werden kann.

Literatur

Aichinger, Karl F. (1754). Versuch einer teutschen Sprachlehre. anfänglich nur zu eignem Gebrauche unternommen, endlich aber, um den Gelehrten zu fernerer Untersuchung Anlaß zu geben, ans Liecht gestellt von Karl Friedrich Aichinger, d.Z. Stadtprediger zu Sulzbach. Frankfurt und Leipzig.

Arens, Hans (1969). Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart. Band 1. Frankfurt am Main: Fischer.

Berlitz, M. D. (1895). Praktische Deutsche Schulgrammatik. Ein kurzgefaßtes Lehrbuch der Hauptschwierigkeiten im Deutschen (Mit zahlreichen Übungen). New York: Berlitz & Co.

Davidson, Thomas (1874). The Grammar of Dionysios Thrax. St. Louis, MO.: R. P. Studley Co.

Duden. Die Grammatik. (= Der Duden; Bd. 4). 6., neu bearb. Aufl. Mannheim: Dudenredaktion.

Evans, Nicholas (2000). Word classes in the world's languages. In Morphologie / Morphology. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Band 17.1, Armin Burkhardt, Hugo Steger & Herbert E. Wiegand (Hgg.), 708–732. Berlin, NY: De Gruyter.

Francis, W. (1790). A concise introduction to English grammar. Marlborough: E. Harold.

Fries, Charles C. (1952). The structure of English. An Introduction to the Construction of English Senctences. New York: Harcourt, Brace and World.

Glinz, Hans (1965 [1952]). Die innere Form des Deutschen. Eine neue deutsche Grammatik. Bern und München: Francke, 4.

Hackmack, Susanne (2000). Prädikation und sekundäre Prädikation. In Prädikation. Bremer Linguistik Workshop. Band 2, Susanne Hackmack & Karl H. Wagner (Hgg.), 1–21. Bremen.

Harris, Zellig (1951). Methods in Structural Linguistics. Chicago: Chicago University Press.

Haspelmath, Martin (2012). How to compare major word-classes across the world's languages. In Theories of Everything. In Honoer of Ed Keenan. UCLA Working Papers in Linguistcs. Band 17, Thomas Graf, Paperno,Denis, Szabolcsi, Anna & Jos Tellings (Hgg.), 109–130.

Helbig, Gerhard (Hg.) (1977). Linguistische Studien. Beiträge zur Klassifizierung der Wortarten. Leipzig: VEB Enzyklopädie.

Law, Vivien (2003). The History of Linguistics in Europe. From Plato to 1600. Cambridge: CUP.

Meinhof, Carl (1915). An introduction to the study of African languages. London: Dent, [Repr. BiblioLife Reproduction Service].

Raster, Peter (2010). Vorgeschichte der Eurolinguistik. In Handbuch der Eurolinguistik, Uwe Hinrichs (Hg.), 899–930. Wiesbaden: Harrassowitz.

Rauh, Gisa (2011). Syntaktische Kategorien. Ihre Identifikation und Beschreibung in linguistischen Theorien. Tübingen: Stauffenberg.

Robins, R. H. (1966). The development of the word class system of the European grammatical tradition. Foundations of Language. International Journal of Language and Philosophy 2 (1): 3–19.

Schüler-Duden. Grammatik. Eine Sprachlehre mit Übungen und Lösungen. 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Mannheim: Dudenredaktion.

Steinthal, H. (1863). Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern. Berlin: Dümmler.

Steinthal, Heymann (1860). Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues; zweite Bearbeitung seiner Classification der Sprachen. Berlin: Dümmler.

Anmerkungen

1Auf den Komplex »Plato und/oder Aristoteles und was er/sie für die Sprachwissenschaft bedeutet« gehen wir nicht näher ein, weil von diesen etablierte Kategorien wie »onóma« oder »rhema« und Klassifikationskriterien wie »ptosis« , die zwar massiv Einfluss hatten auf die gesamte nachfolgende Grammatikschreibung, bis heute nicht wirklich einheitlich übersetzt und verwendet werden. Für den Begriff »onoma« finden Sie bei verschiedenen Autoren z.B. Gleichsetzungen mit 'Nomen', 'Nomen im Nominativ' 'Name', 'Wort', 'Nennwort', 'Hauptwort', 'Begriff ohne Zeitangabe', 'Subjekt'. Wer mehr zu Plato und Aristoteles und Wortarten erfahren möchte, findet bei Steinthal (1863) sehr ausführliche, bei Robins (1966) sehr knappe Information.

2Was Ihnen an dieser Liste vielleicht auffällt, ist das Fehlen der Klasse »Adjektiv«. Das mag damit zu tun haben, dass es eben nur ein Fragment ist (das auch abrupt endet), aber mit Berücksichtigung anderer Texte aus der Epoche liegt eine andere Erklärung näher. Dazu gleich mehr.

3Weder Autorenschaft noch Erstellzeitraum dieser Grammatik sind unumstritten, neuere Forschungen legen nahe, dass die Grammatik erst einige Jahrhunderte später entwickelt wurde. Siehe dazu Law (2003: 56) und Raster (2010: 901–902).

4Es wäre mal interessant, die über Jahrhunderte entstandenen, diversen Übersetzungen von Thrax zu vergleichen.

5Online unter www.fb10.uni-bremen.de/iaas/workshop/praedi/hackmack.pdf

6bzw. die Konstituenten, deren Kopf sie sind.

7Für eine erste Orientierung zur Frage »Wortarten im Sprachvergleich« empfiehlt sich der Aufsatz über Word classes in the world's languages von Evans (2000).